Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)
warnte. Es gab keine mehr. In rasendem Flug näherten sich die Bomber. Angstschreiend, übereinander stürzend, kriechend und sich gegenseitig tretend versuchten die zu Tode erschreckten Menschen, in unserem Haus den Keller zu erreichen. Panik war ausgebrochen. Der Keller war zu klein, viel zu klein für alle Menschen.
In Windeseile hatte mein Vater seine Pistole geholt, eine Mauser. Damit schoß er mehrere Male in die Luft. Er verschaffte sich Gehör. Im Souterrain hatten wir die Küche, Speisekammer und ein Mädchenzimmer. »In die Räume verteilen, auf den Boden legen«, brüllte Vater. Sie gehorchten. In die tiefe Stille hinein hörte man eine Männerstimme: »Jetzt sind wir dran.« »Ruhe«, schrie mein Vater. Sicher hat der Mann Recht, dachte ich. Erst war der Stadtkern dran, jetzt wir, der Außenbezirk.
Unaufhörlich erzitterte unser Haus von den schweren Bombeneinschlägen. Wir konnten die Flugzeuge wie Schatten über das Haus fliegen sehen. Nicht hinsehen. Vater, Mutter, Jürgen und ich hielten uns umklammert. Wir zitterten. Jemand fing zu beten an. Wir alle sprachen das »Vaterunser«, es wurde vom Bombenhagel übertönt. Ein Brüllen und Tosen erfüllte die Luft. Nahm das denn gar kein Ende? Jetzt eine furchtbare Detonation. Kalk rieselte an den Wänden herunter.
Das Haus hielt. Die Flugzeuge flogen ab. Wir waren verschont geblieben.
Wir hatten nur einen Gedanken: Fort aus Dresden, fort aus der brennenden Hölle. Fast alle Menschen aus unserem Haus hatten sich schon wieder dem endlosen Strom der Flüchtenden angeschlossen. Nur fort, fort, lieber auf der kalten Landstraße die Nacht verbringen. Zwei Rauchvergiftete blieben in unserem Haus, zwei Soldaten. Sie wollten nicht weiter. Wie wir später hörten, wurden sie gerettet.
Das Auto hatten wir schon am Nachmittag des 13. Februar bepackt. Wir brauchten nur noch einzusteigen und zu hoffen, daß der Motor nach so langer Zeit des Stillstandes anspringen würde. Wir mußten die Dunkelheit abwarten. Am Tag wäre eine Abfahrt unmöglich gewesen. Die armen Menschen hätten sich auf Kühler und Dach gesetzt und auf die Trittbretter gestellt, nur um so schnell wie möglich weiterzukommen. Und das hätte unser Wagen nicht geschafft.
Die Dunkelheit kam, leise schlichen wir zur Garage, vorsichtig öffneten wir das Tor. Mutter saß am Steuer, beim vierten Mal sprang der Wagen an. Sehr langsam fuhren wir auf die Straße. Der Strom der Flüchtenden hatte jetzt etwas nachgelassen. Wir hatten nur zwei »Trittbrettfahrer«.
Ganz langsam und vorsichtig fuhr meine Mutter. Die tiefen Krater in der Straße konnten wir umgehen. Jetzt kamen wir auf die Südhöhe. Hinter uns lag das brennende und qualmende Dresden. Wir wollten nach Possendorf, wo ein Patient von Vater wohnte. Dort hofften wir unterzukommen.
Wir kamen zu spät, das Haus war bis unter das Dachvoll mit Flüchtlingen aus Dresden. Im Schulgebäude fanden wir dann Unterkunft. Der hilfsbereite Lehrer hatte uns einen Raum zur Verfügung gestellt. Die Klassenzimmer waren alle schon überfüllt. Außerdem befand sich eine militärische Funkstelle in der Schule.
(Dresden) Victor Klemperer 1881–1960
Es war kaum später als sechzehn Uhr, da schien es mir schon, als steckten wir tief in der zweiten Nacht. Die Abspannung wurde durch Hunger verstärkt. Seit der Kaffeemahlzeit am Dienstag abend hatten wir keinen Bissen erhalten. Es hieß immer, die NSV werde Verpflegung heranschaffen. Aber nichts kam. Die Sanitätssoldaten hatten Brot und Wurst zu ihrer eigenen Verpflegung. Davon verschenkten sie einiges. Ich bettelte einen an und brachte Eva ein Brot. Später kam eine Frau, brach mit ihrer fraglos schmutzigen Hand einen Brocken von ihrer Schnitte ab und reichte sie mir. Das Stückchen aß ich. Viel später, bestimmt schon am vorgeschrittenen Abend, kam ein höherer Sanitäter, traf irgendwelche Anordnungen und rief, jeder werde gleich etwas zu essen bekommen. Dann tauchte eine Schüssel mit weißen Brotpaketen auf, in jedem Paket zwei Doppelschnitten. Aber nach den ersten Minuten hieß es: Jedes Paket müsse für zwei Personen reichen. Ich teilte mit Eva. Was aber den meisten – uns merkwürdigerweise nicht – mehr fehlte als das Essen, war Getränk. Anfangs hatte man irgendwo ein wenig Tee aufgetrieben und einzelne Schlücke verteilt. Bald gab es gar nichts, keinen Tropfen Wasser, auch nichts für die Verwundeten und Sterbenden. Die Sanitäterklagten, sie könnten niemandem helfen. Der kräftige Waldmann fühlte
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