Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
hatte sagen wollen.
»Ihr habt keine Vorstellung von dem, was ich will und was nicht«, entgegnete sie. »Ihr habt keine Vorstellung von dem Leben, das ich geführt habe.«
Er machte einen halben Schritt von ihr zurück – so wie ein Schwertkämpfer zurückweicht, wenn er von der Verteidigung zum Angriff übergeht. »Ich bin mit fünf Brüdern aufgewachsen, die mich gehasst haben, mit einem Vater, der mich verachtet hat, und mit einer vernarrten Mutter, die mich zum Werkzeug ihrer Rache machen wollte«, zischte er. »Ich bin an dem Fluss aufgewachsen, hinter dem eure Hinterwaller-Siedlungen liegen. Als ich aus meinem Turm geblickt habe, habe ich euch Hinterwaller im Land der Freiheit gesehen. Du hattest einen Mann, der dich geliebt hat? Ich hatte eine lange Abfolge von Liebchen, die mir meine Mutter ins Bett gelegt hat, damit sie mich aushorchen. Du willst eine Schamanin der Hinterwaller gewesen sein? Ich wurde ausgebildet, Armeen der Wildnis anzuführen, Albia zu vernichten und den König vom Antlitz der Erde zu tilgen, damit meine Mutter ihre Rache fand. Ordensritter haben dich mitgenommen? Meine Brüder haben sich zusammengetan und mich verprügelt, um meinem angeblichen Vater eine Freude zu machen. Das war ein herrlicher Spaß.« Er stellte fest, dass er immer lauter geworden war und Speichel aus seinem Mund spritzte.
So viel zur Selbstbeherrschung. Er hatte schon zu viel gesagt. Viel zu viel. Ihm war übel.
Aber er war noch nicht fertig. »Trotz allem bin ich nicht der Antichrist, selbst wenn Gott mich dazu bestimmen sollte. Ich bin, was ich bin, und nicht das, was jemand anders will. Und du kannst das auch. Sei das, was du sein willst. Du liebst Jesus?«, fragte er, und etwas Schwarzes fuhr in seinen Geist. »Was hat er denn für dich getan? Liebe mich statt seiner.«
»Das werde ich nicht tun«, sagte sie recht gelassen.
Er konnte sich einfach nicht dazu bringen, von ihr wegzugehen. Dabei spürte er nichts mehr – nicht einmal den Drang, etwas zu erwidern. Es war, als sei er mit einem sehr scharfen Schwert geschlagen worden und sähe nun zu, wie sein Arm zu Boden fiel.
Das Nächste, woran er sich erinnern konnte, war, dass er sich in der Wächterstube über dem Tor befand.
Bent, der diensthabende Bogenschütze, stand mit vor der Brust verschränkten Armen da. Als er den Hauptmann sah, zwirbelte er seinen Schnauzbart. »Ihr habt einen Ausfall angeordnet«, sagte er. »Oder etwas Ähnliches. Ich kann Tom Schlimm und die Hälfte seiner Männer nicht finden. Sie sollten jetzt eigentlich Dienst haben.«
»Bald wird etwas passieren«, sagte der Hauptmann und riss sich zusammen. »Sag den Wachen, dass sie besonders gut aufpassen sollen. Sag ihnen …«
Er hob den Blick. Die Sterne glitzerten kalt und stumm.
»Befehl ihnen, wachsam zu sein«, meinte er. Ihm fehlten die richtigen Worte. »Ich muss mich jetzt um die Äbtissin kümmern.«
Nun lief er zur Latrine und übergab sich. Dann wischte er sich das Kinn an einem alten Taschentuch ab und warf es hinter dem Erbrochenen her. Er richtete sich auf, nickte einem unsichtbaren Gefährten zu und ging in die Halle zurück.
Die Äbtissin wartete schon auf ihn.
»Ihr seid meiner Magd begegnet«, sagte sie.
Er war so hart und kalt wie seine Rüstung. Er lächelte. »Ein nettes, zufälliges Zusammentreffen«, sagte er.
»Und Ihr habt nach Euren Wachen gesehen«, meinte sie.
»Nur kurz«, erwiderte er. »Mylady, es gibt hier zu viele Geheimnisse. Ich weiß nicht, worum es geht. Vielleicht bin ich einfach nur zu jung für all dies.« Er zuckte die Achseln. »Aber wir haben zwei Feinde – den Feind draußen und den Feind drinnen. Ich wünschte, Ihr würdet mir alles sagen, was Ihr wisst.«
»Wenn ich Euch alles sagte, dann würdet Ihr mich mit Peitschen aus reinem Feuer geißeln«, sagte die Äbtissin. »Das stammt aus einem Bibelvers, über den ich oft nachdenke.« Sie erhob sich von ihrem Thron und ging quer durch die Halle zu dem Buch hinüber. »Habt Ihr dieses Rätsel inzwischen gelöst?«, fragte sie.
»Unter Benutzung der gewaltigen Hinweise, die Ihr mir gegeben habt«, antwortete er.
»Es war mir nicht möglich, es Euch zu sagen«, gab sie zurück. »Wenn unsereins einen Eid schwört, dann bindet dieser unsere Macht.«
Er nickte.
»Ihr seid so angespannt wie eine Bogensehne«, sagte sie. »Ist das Amicia zuzuschreiben?«
»Ich habe heute Abend eine Trumpfkarte gespielt«, gab er zu. »Und ich habe es zugelassen, dass mein Stelldichein meine
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