Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
eingestehen zu müssen, wie wenig er weiß.
Die Andeutung eines Lächelns spielte um ihre Mundwinkel. »Ihr seid einer von uns, nicht wahr? Ich kann es spüren.«
Sein Blick ruhte zunächst auf ihr, doch als sie das Buch eingehender ansah, tat er es ihr gleich. Er betrachtete den Schmelztiegel in der Hand des heiligen Pancreas. Und folgte dem ausgestreckten Finger des Heiligen bis zu einem Diagramm weiter unten auf der Seite – einem Baum.
Er blätterte zu einer anderen Seite um, auf der ein weiterer Heiliger auf etwas deutete – diesmal war es eine Wolke.
»Ist das eine Probe?«, fragte er.
Sie lächelte. »Ja.«
»Dann vermute ich, dass das Buch ein Rätsel ist. Die Dinge, auf die die Heiligen deuten, sind nichts anderes als die Umrisse einer Schablone, die, wenn man sie über die Schrift legt, die Stellen hervorheben, die sich der Leser vergegenwärtigen soll.« Er fuhr mit dem Finger über die Buchstaben, die neben dem heiligen Eustachius standen. »Es ist ein Grimoire.«
»Ein fantastisch gründliches, verschlüsseltes, auf sich selbst verweisendes Grimoire«, sagte sie und biss sich auf die Zunge, was er in diesem Augenblick als ungeheuer erotisch empfand. Er streckte die Arme nach ihr aus und wollte sie wieder küssen, doch jetzt machte sie eine abwehrende Bewegung, wie Frauen es tun, wenn ein Kind ermüdend wird. »Kommt«, sagte sie.
Er folgte ihr zurück durch die Halle. Ihm war durchaus bewusst, dass er seine Wachen beaufsichtigen musste und das Kommando bei dieser Belagerung innehatte. Doch in ihrer Hand lag ein so großes Versprechen. Die Haut war zart und rau zugleich – die Hand einer Frau, die hart arbeitete. Und doch war sie so glatt wie die Oberfläche einer guten Rüstung.
Sie ließ seine Hand in dem Augenblick los, in dem sie die Tür zum Hof öffnete, und schon standen sie wieder im Licht.
Er wollte etwas zu ihr sagen, hatte aber keine Ahnung, was er ihr sagen sollte.
Sie drehte sich um und sah ihn an. »Ich will Euch noch etwas zeigen«, sagte sie.
Während sie sprach, zog sie eine Kutte aus Nicht-Sehen um sich.
Nun wurde er in anderer Weise auf die Probe gestellt.
Er begab sich in den Palast seiner Erinnerung und tat das Gleiche. Er verweilte dort lange genug, um zu bemerken, dass ihn Prudentia mit heftigem Missfallen ansah und sich der grüne Frühling draußen vor seiner Eisentür zu einem Sturm epischen Ausmaßes zusammenballte.
Und dann huschten sie quer durch den Hof. Sie waren fast unsichtbar; nur eines der Lanthorn-Mädchen, das sich zusammen mit einem jungen Bogenschützen drehte, sah den Hauptmann offenbar deutlich, denn sie vermied es in ihrem Tanz geschickt, ihm zu nahe zu kommen.
Aber er wurde nicht aufgehalten.
Die Novizin blieb vor der eisenbeschlagenen Tür des Dormitoriums stehen, während er sein Phantasma veränderte, sodass es sich mit dem ihren verband. Das war eine sehr vertrauliche Geste. So etwas hatte er außer mit Prudentia noch mit niemandem gemacht; ihr Anblick hatte ihn auf diesen Gedanken gebracht.
Sie hat immer gesagt, dass der Geist ein Tempel, eine Herberge, ein Garten und ein Klohäuschen ist und die magische Verbindung zu einem anderen Zauberer oder einer Zauberin mit Verehrung, Vertraulichkeit, Geschlechtlichem und Ausscheidungen zu tun hat.
Als seine Macht die ihre berührte, nahm diese die seine in sich auf, und sie waren miteinander verbunden.
Er zuckte zusammen.
Sie zuckte ebenfalls zusammen.
Und dann befanden sie sich im Dormitorium und standen in einer kleinen Diele, in der die älteren Nonnen bei seinen früheren Besuchen gesessen und Handarbeiten gemacht oder gelesen hatten. Hier war es hell. Die meisten der Nonnen befanden sich draußen im Hof, nur zwei saßen in aller Stille hier.
»Seht sie Euch an«, sagte Amicia. »Seht nur.«
Er musste nicht allzu angestrengt hinschauen. Ranken aus Macht umspielten sie.
»Habt ihr alle die Macht?«, fragte er.
»Jede einzelne«, antwortete sie. »Kommt.«
»Wann werde ich dich wiedersehen?«, gelang es ihm zu fragen, als sie ihn nach draußen und an die nördliche niedrige Ringmauer hinter den Stallungen führte. Hier wuchs ein Apfelbaum in einem steinernen Trog, der in die Mauer eingebaut war. Eine Bank umgab das Ganze.
Amicia setzte sich darauf.
Er war so verwirrt, dass er gar nicht erst versuchte, sie wieder zu küssen; also nahm er einfach neben ihr Platz.
»Seid ihr allesamt Hexen?«, fragte er.
»Das ist ein hässliches Wort aus Eurem Munde, Hexer«, sagte sie. »Magier.
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