Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
aber ich stelle es mir wie ein Rohr vor, das zu klein ist für all die Einzelheiten, die hindurchgelangen sollen – als würde man alles durch Wasser oder Nebel sehen.«
Michael nickte.
»Die Wildnis schickt keine Späher aus, also nehme ich an, dass unser Feind Tiere als Spione einsetzt. Wir haben eine Menge Vögel gefangen und sie dazu genutzt, ihn in die Irre zu führen.« Der Hauptmann verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Und wir haben Herdfeuer verwendet. Das habt Ihr mir gesagt.« Michael beugte sich vor.
»Gelfred befindet sich nicht unten in der Brückenburg – zumindest nicht mehr. Er steckt draußen in den Wäldern und beobachtet ihre Lager. Das macht er schon, seit wir erkannt haben, dass uns der größte Teil der feindlichen Streitkräfte umzingelt hat. Willst du etwas Tapferes hören? Ich habe Patrouillen mit einer Waffe ausgesandt, wie sie die Moreaner anfertigen. Sie besteht aus Olivenöl, Erdnussöl oder Walöl – was immer man bekommen kann, sowie aus Pech, Schwefel und Salpeter. Dutzende verschiedener Mischungen existieren, aber jeder Feuerwerker kennt sie. Sie ergeben ein kaum zu löschendes Feuer.«
Michael nickte. Der Schreiber bekreuzigte sich.
»Sogar die Kreaturen der Wildnis schlafen. Sogar der Adversarius ist nicht mehr als eine Kreatur. Und wenn sie sich zusammentun und die Menschen angreifen, dann ist es nur verständlich, dass sie ein Lager haben. Reden sie miteinander? Versammeln sie sich um das Lagerfeuer herum? Spielen sie Karten? Kämpfen sie untereinander?« Der Hauptmann schaute aus dem Fenster. »Hast du dir je darüber Gedanken gemacht, Michael, dass wir einen gnadenlosen Krieg gegen einen Feind führen, den wir überhaupt nicht verstehen?«
»Ihr habt ihn also beobachtet und sein Lager angegriffen«, sagte Michael mit großer Befriedigung. »Und wir haben ihnen einen schweren Schlag versetzt.« Nun lächelte er.
»Ja und nein. Vielleicht haben wir sie nicht einmal berührt«, sagte der Hauptmann. »Vielleicht haben Tom Schlimm und Mutwill Mordling nur ein paar bedeutungslose Zelte in Brand gesteckt, und die anderen sind unseren Jungs bis hierher gefolgt und haben uns wesentlich schwerer getroffen. Schließlich haben sie dreiundzwanzig Menschen getötet und dabei selbst nur zwei Lindwürmer verloren.«
Michaels Lächeln erstarb. »Aber …«
»Ich will dir klarmachen, dass Sieg und Niederlage lediglich eine Frage der Betrachtung sind, es sei denn, du bist tot. Du weißt, dass jeder Mann und jede Frau in unserer Truppe – in der ganzen Festung – der Meinung ist, wir hätten einen großen Sieg errungen. Wir haben das Lager des Feindes in Brand gesteckt, und dann haben wir zwei seiner schrecklichsten Ungeheuer in unserem eigenen Lager getötet.« Der Hauptmann stand auf, als Michael nickte.
»Und wegen dieser Wahrnehmung wird jedermann härter und länger kämpfen und tapferer sein, trotz meines verdammten Fehlers, Zivilisten in den Burghof zu lassen, was uns dreiundzwanzig Leben gekostet hat. Und trotzdem gewinnen wir .« Der Hauptmann sah Michael eindringlich an. »Verstehst du?«
Michael schüttelte den Kopf. »Es war nicht Eure Schuld …«
»Doch, es war meine Schuld«, wandte der Hauptmann ein. »Ich bin nicht im moralischen Sinn der Schuldige, denn ich habe sie nicht umgebracht. Aber ich hätte sie am Leben erhalten können, wenn ich an jenem Abend nicht abgelenkt gewesen wäre. Und es ist meine Pflicht, jedermann am Leben zu erhalten.« Er richtete sich auf und nahm seinen Kommandostab in die Hand. »Das ist etwas, das du unbedingt wissen musst, wenn du einmal Hauptmann sein willst. Du musst in der Lage sein, der Wirklichkeit ins Auge zu blicken. Ich habe das Leben der anderen weggeworfen. Ich darf mich deswegen nicht quälen, aber ich darf es auch nicht vergessen. Das gehört zu meinen Aufgaben. Verstanden?«
Michael nickte noch einmal und schluckte.
Der Hauptmann verzog das Gesicht. »Ausgezeichnet. Und hier endet die Lektion über den Sieg. Wenn es dir nicht zu viele Umstände bereitet, würde ich jetzt gern mit Langpfote und Tom Schlimm sprechen, bitte.«
Michael stellte sich vor ihn und salutierte. »Sofort!«
»Hm«, meinte der Hauptmann nur.
Langpfote war fünfzig Jahre alt, sein rotes Haar war ergraut und nur noch ein Kranz um den sonst kahlen Schädel, doch er trug einen gewaltigen Schnauzbart und dichte Koteletten, sodass er mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf hatte. Seine Arme waren unnatürlich lang, und obwohl er Bogenschütze
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