Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
entließ seine Knappen und Sklaven, trocknete sich ab und lauschte dem Klang von dreitausend Pferden, die an diesem wunderbaren Frühlingsabend auf der Weide grasten. Der Duft der Wildblumen überlagerte sogar den Geruch der Pferde.
Als er trocken war, zog er ein weißes Hemd, eine weiße Hose und eine weiße Jacke an – einen Wappenrock der einfachsten Art. Er entrollte einen kleinen, kostbaren Teppich aus dem fernen Osten und öffnete ein tragbares Diptychon – zwei Gemälde, die man für die Reise zusammenklappen konnte und die die Jungfrau Maria sowie die Kreuzigung zeigten. Er kniete vor den Bildern nieder, betete, und als er sich leer und sauber fühlte, öffnete er sich.
Und sein Erzengel kam.
Kind des Lichts, ich grüße dich.
Wie jedes Mal, wenn der Engel kam, brach de Vrailly in Tränen aus. Nie glaubte er, dass diese Visitationen echt sein konnten, bis die nächste all die vorangegangenen bestätigte. Sein Unglaube – sein Zweifel – war zugleich seine Bestrafung.
In Tränen verneigte er sich. »Segne mich, Taxiarch, denn ich habe dich viele Male verleugnet.«
Er versuchte, nicht unmittelbar in das strahlende Antlitz zu blicken, das in seiner Erinnerung aus gepunztem Gold zu bestehen schien, doch tatsächlich sah es mehr nach beweglichem, glitzerndem Perlmutt aus. Wenn er es zu eingehend betrachtete, könnte dies den Zauber brechen …
Es ist nicht dein Fehler, dass der König von Albia nicht das getan hat, was wir wünschten. Es ist nicht durch dich geschehen, dass dieses Königreich zur Unzeit von den Mächten des Bösen angegriffen wurde. Aber wir werden obsiegen.
»Ich erliege der Wut, der Verachtung, der Selbstherrlichkeit und dem Zorn.«
Nichts davon kann dir helfen, der beste Ritter der Welt zu werden. Erinnere dich daran, wie du dich im Kampfe zeigst, und sei dieser Mann zu allen Zeiten.
Kein Priester hatte es ihm je so gut erklärt. Wenn er kämpfte, gab er alle weltlichen Belange auf und war nur noch die Spitze an seinem Speer. Die Worte des Erzengels hallten in ihm wider – wie das Aufeinanderprallen zweier Klingen, die von starken Männern geführt wurden; es war wie der Schall eines trompetenden Hengstes.
»Ich danke dir, Herr.«
Sei guten Mutes. Eine große Prüfung wird kommen. Du musst bereit dafür sein.
»Ich bin immer bereit.«
Der Erzengel legte ihm die leuchtende Hand auf die Stirn, und für einen kurzen Augenblick schaute de Vrailly in das strahlende Antlitz hinauf und warf einen Blick auf die ausgestreckte, vollkommen geformte Hand sowie das goldene Haar, das so viel heller als das von de Vrailly war und ihm doch irgendwie glich.
Gesegnet seiest du, mein Kind. Wenn die Standarte fällt, wirst du wissen, was getan werden muss. Zögere nicht.
De Vrailly runzelte die Stirn.
Aber der Engel war verschwunden.
Er roch noch den Weihrauch, und er verspürte großen Frieden. Sein Geist war getröstet und matt, als hätte er gerade eine Frau gehabt. Doch er empfand weder Scham, noch kam er sich schmutzig vor.
Er lächelte, holte tief Luft und sang leise die ersten Noten des Te Deum .
Westlich von Albinkirk · Harmodius
Harmodius lag auf einem Bündel aus Pelzen, balancierte den Steingutbecher mit warmem Wein auf seinem Brustkorb und sah zu, wie Random mit einem heißen Schürhaken in einem anderen Humpen herumstocherte und Honig sowie Gewürze hineingab.
Hinter dem Kaufmann saß Gawin Murien und flickte einen Schuh. Er sagte zwar nichts, aber er konzentrierte sich ganz auf die Aufgaben eines Soldaten, und Harmodius behielt ihn im Auge. Seine linke Schulter war schon von der Brustwarze bis zum Hals und dem Ansatz des Oberarms voller Schuppen. Offenbar breiteten sie sich nicht mehr aus, aber die einzelnen Schuppen wurden größer und härter. Der junge Mann schien sie seltsamerweise nicht mehr zu beachten. Seit der ersten Nacht hatte er kein Wort darüber verloren.
Harmodius war mit allen Wassern gewaschen und hatte schon viele junge Männer gesehen. Dieser hier bereitete sich auf seinen Tod vor, und deshalb beobachtete Harmodius ihn aufmerksam. Der zweite Ring an seiner rechten Hand enthielt ein Phantasma, das den Jungen wie einen Schlag mit einer geistigen Axt fällen würde.
»Ich mag Süßes und bin nun einmal ein Leckermaul«, sagte Random und grinste. »Meine Frau sagt, dass all meine Versuche, Reichtum und Ruhm zu erlangen, nur dazu dienen sollen, meinen Vorrat an Keksen und Honig aufzustocken.«
Harmodius trank wieder aus seinem Becher. Der Wein war viel
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