Der Rote Mond Von Kaikoura
einigen Augenblicken konnte sie ihn in dem Chaos immer noch nicht ausmachen.
»Ich bin hier, mein Kind!«, antwortete es dumpf aus der hinteren Ecke des Raumes, in der die Kisten noch dichter zusammenstanden als vorn. »Was gibt es denn?«
»Wir haben ein Telegramm aus Blenheim erhalten. Von Mr Caldwell.«
Wie es seine Art war, hatte ihr Großvater beim Auspacken noch nicht viel erreicht und sich stattdessen in einer wissenschaftlichen Abhandlung über den südlichen Sternhimmel festgelesen. Dabei hatte er sich zwischen zwei Kisten gehockt, wodurch es Lillian unmöglich gewesen war, ihn auszumachen. Jetzt erhob er sich mit einem Stöhnen und einer leisen Klage darüber, dass seine Knie auch nicht mehr die besten waren.
»Lies vor; bis ich mich aus dem Durcheinander befreit habe, kann es ein Weilchen dauern.«
Lillian riss den Umschlag auf und entnahm ihm einen länglichen Zettel. Die Nachricht war nicht besonders lang.
»Herzlich willkommen – stop – Assistent macht sich heute auf den Weg – stop – Ankunft Nachmittag – stop – Treffpunkt Main Street – stop – hat Papiere bei sich – stop – alles Weitere persönlich – stop – Grüße James Caldwell.«
»Ha!«, rief ihr Großvater aus, und kämpfte sich, nachdem er den Folianten auf einer verschlossenen Kiste abgelegt hatte, durch das Gewirr. »Ich wusste, dass auf ihn Verlass ist. Der arme Junge muss sein Pferd schon ziemlich schinden, wenn er heute Nachmittag hier sein will.«
»So weit entfernt ist Blenheim nun auch nicht«, behauptete Lillian, die die Stadt schon einmal auf einer Landkarte gesehen hatte. »Wahrscheinlich ist er noch vor Sonnenaufgang losgeritten.«
»Oder bereits gestern. Zu dumm nur, dass ich ihm nicht mitteilen konnte, dass sein Mann in unserem Haus willkommen ist.«
»Mr Caldwell hat ihn sicher deshalb nicht hierhergeschickt, weil er ahnt, welches Chaos bei uns herrscht. Und weil er nicht will, dass wir seinem Assistenten einen Schrecken einjagen. Geh du nur heute Mittag in die Stadt, ich werde mich um alles hier kümmern. Aber jetzt muss ich erst einmal los, uns ein paar Lebensmittel kaufen.«
»Ja, geh nur, Kind, die Sorge, dass du dich verirrst, werde ich hier wohl nicht haben müssen.« Georg schmunzelte. »Wenn du zufällig bei den Krabbenfischern vorbeikommst, kauf doch welche für uns ein, ja? Hier gibt es die besten Krabben weit und breit.«
»Gern, Großvater.«
Lillian kämpfte sich erneut durch das Durcheinander, richtete dann ihre Kleider und verließ, ein paar Kisten passierend, das Haus.
Auf dem Weg in die Stadt bemerkte sie Mrs Peters, die gerade auf dem Hinterhof Holz hackte. Warum hat sie sich eigentlich nicht wieder einen Mann gesucht, dachte sie, während sie beobachtete, wie sich die Frau mit den Scheiten abmühte. Dann kam ihr wieder in den Sinn, was ihr Großvater einst zu ihr gesagt hatte, als sie ihn fragte, warum er nicht wieder geheiratet hatte.
»Hin und wieder gibt es sie noch, die große Liebe. Ich glaube, dass diese Liebe auch über den Tod hinaus besteht, und so könnte ich nie wieder eine andere Frau heiraten. Eben weil ich weiß, dass deine Großmutter mir sonst böse werden würde.«
Ging es Mrs Peters ebenso? Wollte auch sie ihren verstorbenen Ehemann nicht enttäuschen?
Lillian rief ihr einen Gruß zu, doch der ging in dem Krachen des Holzscheits unter, den Mrs Peters endlich durchschlagen konnte.
An diesem Morgen waren schon etliche Bewohner Kaikouras auf der Hauptstraße unterwegs. Zahlreiche Frauen mit Körben unter den Armen kamen Lillian entgegen, die zunächst nicht wusste, wohin sie sich wenden sollte. Schließlich entschied sie sich, einer Gruppe jüngerer Frauen zu folgen, die plappernd und kichernd über den Sidewalk schlenderten. Ihre Kleider deuteten darauf hin, dass sie aus besserem Hause stammen mussten – wenngleich man das, worüber sie sprachen, eher bei Dienstpersonal erwartet hätte, zumindest in Deutschland.
»Hast du schon von der Sache zwischen Betty Hendricks und John Crawford gehört?«, plapperte die Rothaarige in der Mitte lautstark, sodass sich Lillian nicht einmal bemühen musste, zuzuhören. »Er soll ihr heimlich einen Heiratsantrag gemacht haben.«
»Nein!«, rief die Brünette in dem rosafarbenen Kleid zu ihrer Linken.
»Tatsächlich! Wenn das ihr Vater rauskriegt, wird er dem Burschen die Ohren langziehen.«
»Heißt das, sie hat angenommen?«, erkundigte sich ein blondes Mädchen, dessen dezentes grünes Kleid sofort Lillians Blick
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