Der Rote Mond Von Kaikoura
Georg vor dem Fenster seines Zimmers und blickte hinaus in die Nacht. Lillian hatte recht, dachte er. Dieses Zimmer bot wirklich den schönsten Ausblick auf die Sterne – auch wenn die Gebirgskette viele von ihnen verdeckte. Doch in seiner Sternwarte würde es anders sein.
Allerdings bot ihm der Anblick des funkelnden Firmaments nicht den Seelenfrieden, den er erhofft hatte. Die bohrende Unruhe in seinem Innern wollte einfach nicht weichen, so sehr er auch versuchte, sie zu vertreiben.
Vielleicht war die Flöte, die der Kutscher Lillian geschenkt hatte, nur ein Zufall. Georg war nicht entgangen, wie der Maori seine Enkelin angesehen hatte. Sie war ein sehr hübsches Mädchen, und er konnte verstehen, dass ihr Aussehen und ihr Verhalten den jungen Maori dazu ermutigt hatte, ihr ein Geschenk zu machen.
Doch andererseits konnten die Flöte und der Hinweis, dass seine Enkelin die Augen einer tohunga hätte, auch ein Wink des Schicksals sein. Eine Botschaft von papa und rangi, denen er vor so langer Zeit ein Versprechen gegeben hatte.
Georg kniff die Augen zusammen, als er versuchte, das Kreuz des Südens zu fixieren. Ich bin hier, dachte er. Ihr braucht mich nicht daran zu erinnern, was ich zu tun habe. Ich werde mein Versprechen halten.
Doch ebenso, wie die Sterne stumm auf die Menschen herabsahen, brauchte er von den Göttern Neuseelands keine Antwort zu erwarten.
Schließlich wandte er den Blick von den Sternen ab, begab sich aber nicht zu seiner Hängematte, die er in der Ecke gegenüber dem Fenster aufgespannt hatte, sondern ging zu seinem Seesack, aus dessen Tiefen er schließlich ein kleines Büchlein zutage förderte. Der Umschlag war abgegriffen, die Seiten an den Rändern vergilbt. Der kurze Bericht über seine erste Reise in dieses Land, geschrieben vor vielen Jahren, als Lillian gerade zu ihm gekommen war und er den Verlust seines Sohnes hatte verkraften müssen. Eines Tages, so hatte er sich vorgenommen, sollte seine Enkelin es bekommen und erfahren, was das Versprechen wirklich war.
Und wenn er es ihr jetzt schon gab? Vielleicht sollte sie wissen, was damals geschehen war, damit sie seine Beweggründe besser verstand?
Einen Moment lang war er schon versucht, in ihr Zimmer zu gehen und ihr das Büchlein zu geben. Doch dann entschied er sich anders. Nein, vielleicht war es besser, wenn er es ihr später gab. Jetzt musste sie sich hier erst einmal einleben. Auch wenn sie die Fröhlichkeit in Person zu sein schien, wusste er doch, wie schwer ihr die Trennung von ihrer Freundin Adele fiel, der Abschied von Köln, von allem, was sie kannte. Es würde besser sein, wenn er sie nicht noch zusätzlich mit der Vergangenheit verwirrte. Wenn die Zeit gekommen war, würde sie alles erfahren …
6
Schon einen Tag später kam die Antwort aus Blenheim. Ein Laufbursche des Telegrafenamtes übergab sie Lillian an der Haustür. Nachdem sie dem Jungen zusätzlich zu der Gebühr noch einen kleinen Obolus gegeben hatte, trug sie den Umschlag in den Raum, der dazu auserkoren war, irgendwann einmal das Arbeitszimmer ihres Großvaters zu werden. Noch konnte man freilich nicht viel davon erkennen. Überall standen Kisten und Koffer herum, die bereits am frühen Morgen von der hiesigen Gepäckaufbewahrung angeliefert worden waren.
Die Träger, alles Männer von kräftiger, hochgewachsener Statur, hatten Lillian neugierige Blicke zugeworfen, was sie wieder an ihre Begegnung mit Mr Ravenfield am Postamt von Christchurch erinnert hatte.
Ihrem Großvater hatte sie nichts davon erzählt, aber insgeheim hoffte sie, den Schafzüchter wiederzusehen, denn je länger ihre Begegnung zurücklag, desto mehr Dinge entdeckte sie in ihrer Erinnerung, die ganz anziehend an ihm waren.
Doch nun musste sie sich erst einmal einen Weg durch das Kistenchaos bahnen. Wo bereits eine Kiste geöffnet worden war, quoll Holzwolle heraus, hin und wieder nahm sie ein goldenes Funkeln wahr. Obwohl man ihnen versichert hatte, pfleglich mit dem Frachtgut umgegangen zu sein, hoffte Lillian inständig, dass auch wirklich nichts zu Bruch gegangen war. Neben den alten Instrumenten, die ihr Großvater zu Hause benutzt hatte, um die Sterne über den Dächern Kölns zu beobachten, befanden sich in den Kisten auch neue Gerätschaften, mit denen in der Sternwarte gearbeitet werden sollte. Da Lillian davon noch nichts zu Gesicht bekommen hatte, war sie besonders gespannt, was ihr Großvater bereits angeschafft hatte.
»Großvater?«, rief sie, denn auch nach
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