Der Rote Mond Von Kaikoura
aus, wandten sich aber um. Als sich ihr Lachen ein wenig entfernt hatte, streckte die Blonde, die Lillian die ganze Zeit über betrachtet hatte, ihr die Hand entgegen.
»Mein Name ist Samantha Carson, mein Vater ist Händler in der Stadt. Und Abgeordneter im Stadtrat.«
»Lillian Ehrenfels.« Als Lillian ein wenig zögerlich ihre Hand ergriff, lächelte ihr Gegenüber.
»Keine Angst, ich beiße nicht«, sagte Samantha. »Und was die anderen angeht, die sind eigentlich recht nett. Nur müssen sie sich erst einmal an Neuankömmlinge gewöhnen. Aber wenn sie das geschafft haben, können sie sehr unterhaltsam sein.«
Lillian wusste nichts darauf zu sagen. Nun mach schon, tönte eine innere Stimme, die sich verdächtig nach Adele anhörte. Du könntest eine Bekannte gebrauchen. Es ist doch nicht so, dass du mich verrätst, wenn du dir jemand anderen zum Reden suchst.
»Ich … ich brauche Lebensmittel, und mein Großvater möchte Krabben haben. Er hat gemeint, die gäbe es hier.«
»Natürlich, aber dazu musst du zum Hafen. Wenn wir großes Glück haben, bekommst du noch welche, die Krabbenfischer leeren ihre Netze im Morgengrauen aus.«
Damit hakte sich Samantha unbefangen bei Lillian ein und zog sie mit sich.
»Wer ist denn euer Bekannter, wegen dem ihr hergekommen seid?«, erkundigte sich Samantha, nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren.
»Sein Name ist Caldwell, er wohnt in Blenheim.«
»Ist er wohlhabend?«
»Ja, zumindest ein wenig«, antwortete Lillian. Noch immer sträubte sich in ihr alles dagegen, der fremden jungen Frau den wahren Grund ihrer Reise hierher zu nennen. Was, wenn sie nur spionieren wollte? Wenn sie nachher ihren Kameradinnen brühwarm mitteilen würde, was sie hier geredet hatten? Schon in Köln waren Hohn und Spott der Lohn für eine ehrliche Auskunft gewesen.
Samantha schien ihr Misstrauen zu spüren. »Verzeih, wenn ich dich in Verlegenheit bringe. Meine Mutter findet auch, dass ich schrecklich neugierig bin, das ist eine meiner schlechten Eigenschaften.«
»Das finde ich nicht«, entgegnete Lillian unvermittelt. »Neugier ist eine wichtige Grundeigenschaft für eine Forscherin, jedenfalls sagt das mein Großvater immer.«
Erst danach fiel ihr auf, dass sie sich um ein Haar verraten hätte.
»Forscherin? Willst du etwa eine werden?« Samanthas Wangen wurden fleckig vor Aufregung.
Ertappt stotterte Lillian: »Ich …«
»In letzter Zeit gibt es hier in Neuseeland einige Frauen, die studieren wollen. Außerdem fordern sie das Wahlrecht. Ich habe davon gehört, dass auf der Nordinsel einige in größeren Städten auf die Straße gehen und demonstrieren.« Samantha kniff die Augen zusammen und musterte Lillian einen Moment lang. »Du bist doch nicht etwa eine Suffragette, oder?«
Wenn sie jetzt das Falsche sagte, würde Samantha ihren Freundinnen eine Menge zu berichten haben …
»Nein, das bin ich nicht«, antwortete sie, und weil sie keinen anderen Ausweg wusste, setzte sie hinzu: »Mein Großvater ist Forscher.«
»Was erforscht dein Großvater denn? Etwa die Natur? Will er sich die ganzen seltsamen Tiere hier anschauen? Die flügellosen Kiwi, die gruseligen Weta und diese Fledermäuse, die an den Baumstämmen hinaufklettern?«
»So was Ähnliches«, entgegnete Lillian, während sie fieberhaft überlegte, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen könnte. »Ist der Hafen in der Nähe?«
Ein Lächeln huschte über Samanthas Gesicht, dann nickte sie. »Es ist nicht mehr weit.«
»Gut.«
»Würdest du vielleicht auch gern etwas über mich erfahren?«, fragte Samantha weiter, die wahrscheinlich eingesehen hatte, dass es sich vorerst nicht lohnte, weiter nachzubohren.
»Wenn du mir etwas erzählen möchtest«, antwortete Lillian freundlich, doch erleichtert war sie noch immer nicht. Wahrscheinlich würde Samantha wieder von vorn anfangen, wenn sie erst einmal mit ihrer Geschichte fertig war. »Dein Vater ist also Händler?«
»Ja, er besitzt das Warehouse am anderen Ende der Stadt. Er bemüht sich neuerdings darum, Bürgermeister zu werden, dementsprechend wenig Zeit hat er für uns.«
»Hast du Geschwister?«
»Ja, eine kleine Schwester, Maggie. Und du?«
Lillian schüttelte den Kopf.
»Wie kommt es eigentlich, dass du mit deinem Großvater reist?«
Lillian erkannte nun, dass es ihr noch immer schwerfiel, von ihren Eltern zu sprechen. In Köln hatte jedermann Bescheid gewusst. Auch hier würde es schnell die Runde machen. Besser, sie erzählte es, bevor
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