Der Rote Mond Von Kaikoura
die Leute darüber spekulierten, warum sie mit ihrem Großvater hier lebte.
»Meine Eltern sind gestorben, als ich fünf Jahre alt war«, antwortete sie schließlich. »Sie sind bei einem Zugunglück ums Leben gekommen.«
»Wie schrecklich!«, raunte Samantha mitfühlend.
»Mein Großvater ist der einzige Mensch, den ich noch habe. Egal, wohin er hätte reisen wollen, ich wäre ihm überallhin gefolgt.«
»Dann hattest du also noch keinen Bräutigam in deiner Heimat?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Nun, das kann sich hier sehr schnell ändern. Es gibt etliche Junggesellen in der Stadt.«
»Ich glaube kaum, dass ich in der nächsten Zeit Gelegenheit haben werde, mich nach Männern umzusehen. Wir haben sehr viel zu tun, und die meisten Männer finden gebildete Frauen abschreckend.«
»Warum das? Hier könntest du durchaus auf jemanden treffen, der es interessant findet, dass Frauen mehr im Kopf haben als Kleider und den neuesten Tratsch.«
Das musste sie gerade sagen! Sie steckte in einem der schönsten Kleider, die Lillian je gesehen hatte – und obendrein schien sie dem Tratsch nicht abgeneigt zu sein.
»Ich weiß, was du sagen willst«, lenkte Samantha ein. »Wahrscheinlich hast du gehört, worüber wir gesprochen haben. Aber glaub mir, das ist nicht alles, was es über Samantha Carson zu wissen gibt. Da ist noch sehr viel mehr.«
Lillian konnte sich kaum vorstellen, was das sein sollte. Wie eine angehende Wissenschaftlerin wirkte sie nicht – doch halt, was war das noch mit den Suffragetten? War sie vielleicht eine davon?
»Da ist der Markt!«, verkündete Samantha, bevor Lillian nachfragen konnte. »Viel wirst du wahrscheinlich nicht mehr bekommen, doch immerhin wird es etwas billiger sein.«
Der Markt war nicht viel mehr als eine recht große Anlegestelle mit einigen Fischerbooten. Die Fischer verkauften ihre Ware entweder direkt von ihren Booten herunter oder hatten davor ein paar Holzkisten aufgestellt, auf denen sie ihre Körbe präsentierten. Der Geruch nach Algen und Fisch schwebte trotz der frischen Brise über ihren Köpfen und erinnerte Lillian an den Rhein, der ähnlich gerochen hatte. Ein Gefühl der Wehmut breitete sich in ihrer Brust aus, und beinahe hätte sie ihre neue Gefährtin mit Adele angesprochen, doch rechtzeitig genug besann sie sich wieder und schluckte den Namen ihrer Freundin herunter.
Samantha führte sie zu einem der Fischer, der noch etwas mehr Krabben in seinen Körben hatte. Der Mann war mit ähnlichen Tätowierungen geschmückt wie ihr Kutscher, was Lillian sofort wieder an die Flöte denken ließ, die er ihr geschenkt hatte. Und an das Wort tohunga.
Sofern der Krabbenfischer sie ebenfalls für eine Forscherin hielt, ließ er es sich nicht anmerken. Er zeigte ihr die besten Stücke, die er noch hatte, und pries sie in einem wirren Gemisch aus Englisch und Maorisprache an, bei dem Samantha ihr ein wenig weiterhelfen musste. Letztlich landeten ein paar wunderbare Krabben für sehr wenig Geld in ihrem Einkaufskorb.
»Du musst aufpassen, dass sie nicht rauskrabbeln. Und leg sie, wenn du zurück bist, ein wenig ins Feuchte. Lebendig halten sie sich am längsten.«
Lillian blickte in ihren Korb, und fast überkam sie ein wenig Mitleid mit den Tieren, deren Scheren hilflos auf und zu schnappten. Doch beim Abendessen würden sie ihnen sicher sehr gut schmecken.
»Es heißt übrigens, dass Kaikoura nichts anderes als Krabben essen in der Maorisprache heißen soll«, bemerkte Samantha, als sie dem Hafen den Rücken kehrten. »Ein passender Name, findest du nicht?«
»Sehr passend.« Lillian schmunzelte. Sie wusste nicht, warum, aber irgendwie spürte sie, dass sich ihre Haltung Samantha gegenüber veränderte. Vielleicht war sie ja doch niemand, der nur darauf wartete, neuen Klatsch in sich aufzusaugen. Vielleicht war Samantha wirklich nur neugierig – und sie schien auch nicht dumm zu sein.
»Was hältst du davon, zum Scheunenfest der Parkers zu kommen? Wird dein Großvater dir das erlauben?«
Lillians Augen weiteten sich. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, zu einem Fest eingeladen zu werden.
»Ich weiß nicht so recht«, zögerte sie. »Ich kenne hier doch niemanden.«
»Du kennst mich. Und die anderen wirst du noch kennenlernen. Ich finde es sehr erfrischend, mal mit jemand anderem zu reden als mit Rosie und so weiter.«
»Rosie?«
»Die Rothaarige, Rosie Henderson. Ich will ihr ja nicht in den Rücken fallen, doch bei ihr solltest du aufpassen,
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