Der rote Norden - Roman
geschrieben«.
»Ja?«, frage ich. Er findet meine Reaktion nicht nett, ich merke das. (Er bewegt sich fast unmerklich in seiner wattierten Jacke.) Aber ich sehe eigentlich nicht ein, was Artikel über Sweatshops mit unserer Reise zu tun haben.
Er trinkt einen Schluck Mineralwasser. Dann fährt er fort: »Ich habe geschrieben … möchtest du wirklich Einzelheiten wissen?«
»Ja«, sage ich. Die Einzelheiten sind offenbar wichtig, sonst würde er nicht so leiden.
Er hebt das Kinn und schaut geradeaus – ins Moor hinein. Er öffnet den Mund, und er fängt ziemlich leise an zu reden. Und er redet nun, ohne dass ich ihn unterbreche.
»Die Artikel habe ich meist damit begonnen, dass keiner meiner Leser in einem Sweatshop in der Dritten Welt arbeiten möchte, oder dass keiner meiner Leser für zwei Dollar am Tag arbeiten möchte. Du hast den Leser dann auf deiner Seite, er liest weiter. Von uns aus gesehen« – er betont diese vier Wörter – »sind zwei Dollar pro Tag ein lächerlich niedriger Arbeitslohn. In Kambodscha, in Indonesien, in Nicaragua reissen sich jedoch die Menschen darum, eine solche Stelle zu erhalten.«
Er spricht langsamer: »Warum das? Ganz einfach: Weil diese Arbeit sehr viel attraktiver ist als sämtliche anderen Möglichkeiten, die sie haben, um Geld zu verdienen. An dieser Stelle des Artikels habe ich dann oft eine Frau mit exotischem Namen zitiert, die versichert hat, dass sie, bevor sie in einer Fabrik zu arbeiten angefangen hat, nur etwa 30 Cent im Tag verdiente.«
Er atmet tief ein und redet dann rasch weiter: »Wohlmeinende Menschen bei uns fordern oft, dass bestimmte europäische Arbeitsrichtlinien auch auf diese Länder angewandt werden sollen: Eine festgelegte Wochenarbeitszeit, ein Mindestalter – also keine Kinderarbeit – Mindestlöhne, Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Wenn solche Forderungen durchgesetzt werden, senken sie die Produktivität einer Fabrik, das sieht jeder ein. Die Produktivität der Drittweltarbeiter, die ja an Ort und Stelle angelernt werden müssen, ist sowieso niedrig. Es leuchtet also ein, dass solche Forderungen nach Arbeitsrichtlinien nicht im Sinne der Arbeiter sind, denn da die Firma kein Interesse an der Senkung der Produktivität hat, wird sie, falls solche Richtlinien angewendet werden müssen, genötigt sein, Arbeiter zu entlassen oder die Löhne zu senken.«
Martin betrachtet kurz die Fingernägel seiner rechten Hand.
»Es gibt da eine Geschichte, die oft zitiert worden ist, von einer Fabrik in Bangladesch, die in den Neunzigerjahren auf Drängen eines prominenten amerikanischen Senators hin 30 000 Kinder entliess. Es ist erwiesen, dass eine grosse Anzahl dieser Kinder, weil sie entlassen wurden, in die Prostitution getrieben worden sind.« Die Hand, die er anschaut, krampft er zusammen, und ich merke, dass jetzt der Schlusssatz kommt, denn er redet ganz schnell: »Alles in allem: Wenn man Kleider oder Spielsachen oder was auch immer für Dinge kauft, die in einem Sweatshop hergestellt wurden, hilft man den Ärmsten dieser Welt, man ermöglicht ihnen ein menschenwürdiges Dasein. So etwa sind diese Artikel aufgebaut gewesen. Manchmal habe ich auch Statistiken und Kurven hinzugefügt.«
Was er sagt, tönt überzeugend. Gewissermassen logisch. Ich frage ihn, nachdem ich kurz nachgedacht habe: »Bist du denn dort gewesen? Hast du mit den Frauen mit den exotischen Namen gesprochen?«
Martin verzieht den Mund. »Ich bin in einigen von diesen Ländern gewesen. Aber man kann diese Artikel auch schreiben, ohne je in der sogenannten Dritten Welt gewesen zu sein.«
Erst jetzt versuche ich mich daran zu erinnern, was ich über Sweatshops weiss. Violet hat früher einmal darüber gesprochen. Heftig und erregt – sie hat nicht leise gesprochen wie Martin eben, sondern laut und gehässig. Ich entsinne mich, dass sie davon gesprochen hat, dass man den Arbeiterinnen nicht einmal die Zeit gebe, aufs wc zu gehen, ja, dass sie ihre Notdurft in einen mitgebrachten Plastiksack verrichten müssten. Eigentlich ist das alles, was ich über Sweatshops weiss. Diese Geschichte mit den Plastiksäcken. Ich sehe Martins Gesicht. Er wirkt erbittert.
Ich berühre seine Hand, die jetzt auf dem Tisch liegt.
»Martin, warum hast du denn diese Artikel geschrieben?«
Er sieht mich kurz an und schaut dann wieder weg: »Krieger hat die Artikel von mir verlangt.« Krieger war offenbar damals sein Chef.
»Du hast nicht nein sagen können?«
»Ich habe
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