Der rote Norden - Roman
als das.«
Ich fühle, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Ich warte. Dann redet er ganz rasch.
»Sophie, ich bin dagelegen in dieser Ferienwohnung, auf diesem Bett. Plötzlich – es war wie ein Schlag – hab ich gespürt, dass ich nicht weiss, ob diese Erinnerung wirklich das ist, was man so eine Erinnerung nennt. Ist es eine Erinnerung an etwas, was wirklich einmal geschehen ist? Oder ist es nur eine Erinnerung an etwas, was ich damals gern gehabt hätte? Wonach ich mich damals gesehnt habe? Ich bin sofort aufgestanden, habe das Licht gelöscht. Dann bin ich ins Wohnzimmer gegangen und hab dich angerufen. Ich hab dir gesagt, dass ich zur Beerdigung komme … Ja, ich habe beschlossen, dass die Frage, ob die Erinnerung sich auf ein wirkliches Ereignis bezieht oder nicht, unwesentlich ist. Aber ich habe dieses Erlebnis nie vergessen. Das ist seltsam, nicht?«
Sein Umriss bewegt sich kaum, aber ich weiss: Das ist das Ende der Geschichte.
18.
Ich will aufstehen Ich wuchte mich hoch. Ich kann mich nur schwer abstützen, weil das Bett so schmal ist.
Schliesslich schaffe ich es. Ich gehe die zwei Schritte zum anderen Bett und tapse irgendwo auf den schwarzen Umriss. Ich spüre die Decke, und darunter ist Martin.
Es ist eine schlimme Geschichte. Und ich habe keinerlei Möglichkeit, sie zu entkräften. Ja, es ist mühsam und schlimm, darüber zu sprechen. Aber er hätte sie sicher nicht erzählt, wenn er nicht wünschte, dass ich eine Antwort gebe.
Ich spüre ihn unter meiner Hand. Ich sage: »Martin!« Er reagiert nicht. Schliesslich höre ich ihn: »Ich hätte das nicht erzählen sollen. Es ist eine sinnlose Geschichte.«
Ich stehe da; barfuss in dem weiten Nachthemd, das ich mir in Zürich gekauft habe, als ich gewusst habe, dass ich nicht mehr zurückkehren würde.
Ich lege meine Hand nochmals kurz auf den dunklen Hügelzug, der auf dem Bett liegt. Die Geschichte mit der Hexe – da hätte ich, wenn ich in der Zeit zurückfliegen könnte und wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiss, etwas ändern können, helfen können. Aber die Grossvater-Geschichte – in der ist Martin nicht zu erreichen. Ich gehe zwei Schritte zurück, setze mich auf mein Bett.
»Martin«, sage ich nochmals.
Ich höre ihn lachen. Dann sagt er: »Ich finde es grossartig, dass du ganz allein herausgekommen bist aus deinem Haus. Ganz allein, nach so vielen Jahren.«
Also, sprechen wir halt über mich. Was kann ich dazu sagen? Ich suche nach den richtigen Ausdrücken. Ich finde schliesslich Wörter, die mit dem, was ich erlebt habe, zu tun haben.
»Ich bin sicher gewesen, dass ich nie, nie hinauskommen würde. Und dann ist es plötzlich ganz einfach gewesen. Es hängt vielleicht mit dem Weinen zusammen.«
»Mit dem Weinen?«
»Ja. Ich habe so furchtbar weinen müssen. Weil die Katze das Bild kaputt gemacht hat. Und ich habe genau gewusst, dass ich selber daran schuld bin.« Vernünftig tönt das nicht.
»Nachdem du geweint hast, war es ganz einfach?«
»Ja«.
Er schweigt. Dann sagt er: »Das mit Grossvater … dass wir Freunde gewesen sind, ist wahrscheinlich eine Illusion. Aber es ist eine Tatsache, dass ich eine grosse Schwester gehabt habe. Eine richtige Schwester. Ich habe das nicht realisiert. Und dann, später, war ich voller Ärger, weil es Kaspar gab in deinem Leben, und Kaspar war mir fremd.«
Mir auch, denke ich.
»Und so tappt man immer weiter«, sagt er.
Und man friert, denke ich. Und man wird dick. Aber Martin wird nicht dick.
»Aber Natalie?«, sage ich.
»Natalie?«, fragt er zurück. »Wenn man so lange im Dunkeln herumgetastet hat wie ich, dann denkt man irgendwann, den Versuch ist es wert. Aber vielleicht war es gar kein Versuch. Sie war jedenfalls nicht zufrieden.«
Er sagt nicht, ob er zufrieden war. Er sagt nur, dass er es vielleicht gar nicht versucht hat.
Wir schweigen. Dann murmelt er (ich denke, er spricht gegen die Zimmerdecke, ich kann es nicht erkennen): »So viele Jahre. Und du hast es geschafft, herauszukommen.« Ich sage nichts. Was könnte ich sagen? Und er fügt hinzu: »Wie waren diese Jahre? Wie war diese lange Zeit?«
Ich nehme wahr, dass er sich im Bett aufsetzt. Wie waren diese Jahre? »Martin«, sage ich, und dann suche ich erst einmal die Worte, für das, was ich ausdrücken will. »Martin, du hast gesagt, dass du im Dunkeln getastet hast, aber dieses Bild lässt die Vermutung zu (was für ein blöder Ausdruck, aber ich habe immer Mühe, das zu treffen, was ich genau
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