Der rote Norden - Roman
auch Natalie alleine Ski gefahren.«
Martin stockt. Aber ich weiss, er wird fortfahren.
»Die Wohnung hat drei Zimmer gehabt. Ein grosses Wohnzimmer. Ein Elternschlafzimmer. Und ein kleines Kinderzimmer. Das Wohnzimmer hat einen Balkon gehabt. Man hat draussen in der Sonne Kaffee trinken und den Skifahrern zuschauen können.« Er macht wieder eine Pause. Ich warte und schaue auf seinen Umriss, der sich kaum bewegt.
Dann setzt er wieder ein: »An dem Abend, von dem ich erzähle, habe ich auf dem Bett im Elternschlafzimmer gelegen. Ferienwohnungsbetten riechen nach den Leuten, die normalerweise drin schlafen … Die Kinder haben im Nebenzimmer gelärmt. Ich meine, ich habe sie gehört, aber ich habe ihnen nicht zugehört. Manchmal hab ich Natalies Stimme gehört. Sie hat halt auf sie aufgepasst. Möglicherweise hat sie dabei ein Buch gelesen.
Ich liege auf dem Bett und schaue zum Fenster. Der weissblaue Himmel wird allmählich dunkler. Manchmal werden Schneeflocken vom Wind am Fenster vorbeigeweht, man sieht sie dann wie Schatten, weil sie dunkler sind als der Himmel. Ich meine, sie sind nicht dunkler, aber sie erscheinen dunkler. Ich liege und schaue zum Fenster, auf die beiden hellen Rechtecke, die dunkler werden. Im andern Zimmer tönen die Kinder. Das Telefon muss einmal geklingelt haben, aber ich habe es nicht bemerkt. Ich hab auf das Blau geschaut, das Blau im Fensterrahmen, das sich mit der Zeit fast unmerklich verändert hat. Dann …«
Jetzt folgt eine Pause; eine Art unausgefüllter Raum, der dringend danach verlangt, gefüllt zu werden, in diesem kleinen, engen Hotelzimmer, dessen Lichtquelle der Nachthimmel ist, der durch die quer gestellten Jalousienlamellen in Streifen geschnitten wird.
»Und dann öffnet sich plötzlich die Zimmertüre. Natalie. Sie fragt, ob sie Licht machen kann, und sie knipst es an, bevor ich antworten kann. Der Himmel jenseits der Scheibe ist jetzt schwarz, und die Schneeflocken sind im Licht hell. Natalie sagt, dass du eben angerufen hast, dass du gesagt hast, dass Grosvater gestorben ist. Sie sagt auch, wann und wo die Beerdigung stattfinden wird. Die Kinder drängen sich an Natalie vorbei und kommen ans Bett. Ich hab mich aufgerichtet, und Natalie hat sie – jedes mit einer Hand – zurückgeholt. Sie sagt, dass sie, falls ich es wünschte, zur Beerdigung mitkomme. Dass es wegen der Kinder wohl einfacher sei, wenn ich alleine hinfahren würde.
Ich sage nichts. Das Zimmer ist plötzlich so hell, und mein Grossvater ist gestorben. Dann hab ich gefragt, ob ich allein sein kann. Sie hat genickt. Sie hat das eine Kind – Florian, glaube ich – vor sich hergeschoben und das andere auf den Arm genommen. Sie hat nicht mehr das Licht gelöscht, bevor sie die Tür geschlossen hat.«
Jetzt schweigt Martin. Ich warte. Er wird fortfahren.
So ist es auch.
»Ich liege jetzt im Hellen. Eine Erinnerung drängt sich in meinen Kopf. Ich habe den Eindruck, sie sei ganz nahe, ganz vertraut. Sie geht so: Ich habe eine Pelerine an, so eine Art Regenmantel ohne Ärmel. Ich bin klein. Es regnet. Die Tropfen prallen und prasseln gegen die Kapuze. Sie machen Lärm. Ich gehe. Meine Füsse stecken in Gummistiefeln. Und wenn ich auf diese kleinen Stiefel schaue, sehe ich, wie das Wasser bei jedem Schritt hochspritzt.
Meine rechte Hand ist warm, in meiner Hosentasche unter der Pelerine. Aber mein linker Arm wird nass. Ich habe ihn durch den Ärmelschlitz der Pelerine nach draussen gestreckt. Der Ärmel – was habe ich angehabt? Einen Pulli? Ein Hemd? – ist nass, er klebt am Arm. Doch das macht nichts. Die Hand, die linke Hand wird von der grossen Hand meines Grossvaters gehalten. Sie ist ganz warm, denn er hat ja eine viel grössere Hand als ich, er umschliesst ganz meine Hand.«
Martin macht wieder eine Pause.
»Der Grossvater hat auch eine Pelerine an. Sein Arm ist auch nass. Sein rechter Arm und mein linker sind nass geworden. Wir gehen zusammen durch den Regen. Und ich denke:
Freunde. Wir sind Freunde
. Da sind die Geräusche: Die hellen, die entstehen, wenn man mit den Stiefeln in die Pfützen tritt, und die dunklen, die der Regen verursacht, der auf die Kapuze fällt. Ich denke
Freun-de, wir sind Freun-de
. Im Takt meiner kleinen schnellen Schritte – ich muss rasch gehen, weil Grossvater so viel längere Beine hat – denke ich immer wieder
Freun-de, wir sind Freun-de
.«
Martin sagt nichts mehr. Aber ich weiss, er wird weitersprechen.
»Das ist es. Das ist die Erinnerung. Nichts
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