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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franzisika Haeny
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meine), dass du dich irgendwie fortbewegt hast, möglicherweise im Kreis herum, aber du hast dich bewegt. Ich habe von mir gewusst, dass ich festgemacht bin, angenagelt, angeschraubt. Festgeschraubt für über dreissig Jahre.«
    »Festgeschraubt«, wiederholt er.
    »Ja«, sage ich. Und weil mir nichts mehr dazu einfällt, sage ich: »Und jetzt sind wir da. Meinst du, dass wir nun schlafen können?«
    Er legt sich hin, und ich höre ihn sagen: »Ich denke nicht, dass ich schlafen kann. Ich glaube es nicht.«
    Eigentlich glaube ich auch nicht, dass ich einschlafen werde. Da erinnere ich mich an ein Schlafmittel, das ich vor unzähligen Jahren für Violet angewendet habe. Ich stehe auf, taste mich zum Fenster, ich weiss, dass da ein hölzerner Stuhl neben einem kleinen Tisch steht. Ich greife nach dem Stuhl, ziehe ihn zu mir und setze mich neben Martins Bett.
    »Gib mir deine Hand«, sage ich.
    »Welche?«, fragt er verblüfft.
    »Die, die näher bei mir ist«, sag ich. Er streckt mir seine grosse Hand entgegen, ich nehme sie. Mit der einen Hand halte ich sie, mit der anderen streichle ich sie innen und aussen. Ich bin an Violets Bettchen gesessen und habe sie so zum Einschlafen gebracht. Und dann war es ein Kinderbett. Und dann hat sie die Türe abgeschlossen. Sie hat nicht mehr gewollt, dass ich ihr beim Einschlafen helfe.
    Wenn man jemandem so zum Einschlafen verhilft, merkt man, wann er einschläft, denn seine Hand verändert sich. Es hat lange gedauert, bis Martin eingeschlafen ist.
    Ich gehe in mein Bett zurück und decke mich zu.

19.
    Wieder ein Frühstück mit Blick auf einen See. Wir sind nicht allein im Speisesaal. Etliche Gäste sitzen an den anderen Tischen, bedienen sich am Buffet. Martin sieht müde aus. Vielleicht ist er gerade deshalb müde, weil er diese Nacht besser geschlafen hat. Manchmal schaut er mir ins Gesicht. Ich denke: Eigentlich könnte er mir jetzt endlich sagen, wohin unsere Reise geht.
    Dann sage ich es: »Martin, wohin fahren wir eigentlich?«
    Er öffnet den Mund, er schliesst ihn wieder, er fragt: »Kann ich es dir beim Mittagessen sagen?«
    Ich denke: Er will Aufschub; ich nicke.
    Dann sind wir unterwegs. Ich fahre. Heute ist der Himmel nicht blau. Er ist weiss. Wir fahren durch ein Land voller roter Bäume, und das Ende der Strasse verschwimmt im Nebel. Winzige Regentropfen sind in der Luft, es nieselt. Von Zeit zu Zeit taucht ein überhoher Sendemast auf, der, aus grauen Stahlelementen zusammengefügt, in den Himmel hineinragt. Keine Tiere, keine Vögel sind zu sehen, auch wenn es hin und wieder leere Vogelnester oben in den Bäumen hat. Immer weiter fahre ich. Einmal bedeutet mir Martin, dass ich anhalten solle. Es ist Zeit für das Mittagessen, für Bananen, Mandeln und Mineralwasser (das wir heute vor dem Abfahren noch gekauft haben).
    Der Rastplatz grenzt an eine rote Ebene. Es scheint mir ein Moor zu sein, ein grosses rotes Moor. Rostrote Grasflächen, in denen sich Flecken von rötlich-beigem Gras befinden. In die dunklen Gräser wie in die hellen sind weisse Wattebüschel gestreut – Wollgräser, denke ich, sind das. Die Wipfel einer Reihe leuchtend roter Birken bilden den Horizont, von dem aus sich der weisse Himmel spannt. Und dieser Himmel spiegelt sich in ein paar hingestreuten Wasserlachen.
    Wir setzen uns an einen der Holztische, die ich mittlerweile kenne. Ich lege Bananen und Mandeln auf den Tisch, und Martin stellt eine Flasche mit Mineralwasser und zwei Plastikbecher dazu. Ich sitze und schaue. Erst jetzt merke ich, dass die Autostrasse mitten durch das Moor führt, das sich auch auf der anderen Strassenseite dunkelrot ausstreckt.
    Martin isst eine Banane und dann noch eine. Er trinkt ein Glas Wasser. Er starrt vor sich hin und sagt schliesslich: »Wir fahren zu x.«
    »x?«, frage ich nur.
    »Ja«, sagt er. »Ich weiss nicht, wie er wirklich heisst. Ich habe ihn als x kennengelernt.«
    »Okay«, sage ich. Okay bedeutet: Erzähl weiter. Eigentlich ist das Wort mit dieser Bedeutung nicht in meinem Wortschatz. Violet hat es manchmal so gebraucht.
    »Ich habe Artikel geschrieben«, sagt Martin. Er blickt auf den Boden.
    »Ja?«, frage ich. Ich weiss natürlich, dass er Artikel geschrieben hat. Er ist schliesslich Journalist.
    Er legt die Bananenschale auf den Tisch. Er stützt den Ellbogen auf den Tisch und beisst auf seinen Daumen. Er schaut immer noch auf den Boden.
    »Weisst du, was ein Sweatshop ist?«
    »Ja«, sag ich.
    »Ich habe Artikel über Sweatshops

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