Der rote Planet
Wer viel hat, gibt einem anderen, der beispielsweise infolge einer
Verletzung Blut verloren hat, etwas ab. Das wird natürlich
auch bei uns
gemacht, aber jeder hat Anspruch auf das, was unserer gesamten Ordnung
entspricht: den kameradschaftlichen Austausch des Lebens nicht nur
geistig, sondern auch körperlich.«
6. Arbeit und Gespenster
Die Eindrücke der ersten Tage, die als
mächtige Lawine auf mich
einstürzten, gaben mir eine Vorstellung von den
Ausmaßen der
bevorstehenden Arbeit. Vor allem musste ich diese so unermesslich
reiche und in ihren Lebensformen originelle Welt begreifen. Ich durfte
sie nicht wie ein Museumsbesucher betrachten, sondern musste als Mensch
unter Menschen, als Arbeiter unter Arbeitern an ihr teilhaben. Nur dann
konnte ich meine Mission erfüllen und das Anfangsglied einer
echten
wechselseitigen Verbindung zweier Welten sein. Als Sozialist stand ich
auf der Grenzlinie zwischen diesen Welten — ein unendlich
kleiner Punkt
der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Beim Abschied im Krankenhaus sagte Netti zu mir:
»Nichts
überstürzen!« Er hatte gut reden! Ich musste
mich beeilen, musste alle
meine Kräfte, meine ganze Energie einsetzen, weil die
Verantwortung so
groß war! Welch kolossalen Nutzen, welch gigantischen
Fortschritt,
welch schnelles Aufblühen musste der lebendige, energische
Einfluss
einer höheren, starken und harmonischen Kultur unserer alten,
gequälten
Menschheit bringen! Jedes Versäumnis bei meiner Arbeit konnte
das
hinauszögern. Nein, zum Abwarten, zum Ausruhen war keine Zeit.
Ich arbeitete sehr viel, beschäftigte mich mit der
Wissenschaft und
Technik der neuen Welt, studierte das gesellschaftliche Leben, las
Literatur. Vieles war schwierig.
Die wissenschaftlichen Methoden verwirrten mich: Ich eignete
sie mir
mechanisch an, überzeugte mich bei Versuchen, dass sie leicht,
einfach
und fehlerlos anzuwenden waren, und dennoch verstand ich sie nicht; ich
begriff nicht, warum sie zum Ziele führten, wo sie mit den
lebendigen
Erscheinungen verbunden waren, worin ihr Wesen bestand. Ebenso
würde es
einem Mathematiker des 17. Jahrhunderts ergehen, der nicht die
lebendige Dynamik unendlich kleiner Größen erfassen
könnte.
Die gemeinsamen Beratungen der Marsmenschen
verblüfften mich durch
ihren konzentriert-sachlichen Charakter. Ob es sich um
wissenschaftliche Probleme, um Arbeitsorganisation oder sogar um Kunst
handelte — die Vorträge und Reden waren sehr
komprimiert und kurz, die
Argumentation war bestimmt und präzise, niemand wiederholte
sich oder
gab nochmals die Meinung eines anderen wieder. Die meist einstimmigen
Entscheidungen wurden mit märchenhafter Schnelligkeit
verwirklicht.
Wissenschaftler einer Fachrichtung entschieden, man solle ein neues
Institut schaffen, Arbeitsstatistiker verlangten eine neue Fabrik, die
Einwohner einer Stadt wollten ihre Stadt mit einem Gebäude
verschönen —
flugs erschienen neue Ziffern der notwendigen Arbeitsstunden, die von
der Zentrale errechnet wurden, Hunderte und Tausende Arbeiter kamen
angeflogen, in wenigen Tagen oder Wochen war alles vollbracht, und die
Arbeiter verschwanden wieder. Das wirkte wie Zauberei, wie seltsame,
ruhige und kalte Magie ohne Beschwörungen und mystisches
Beiwerk,
jedoch um so rätselhafter in seiner übermenschlichen
Kraft.
Die Lektüre von Büchern, selbst rein
künstlerischer Werke, war für
mich weder Erholung noch Entspannung. Die Bilder schienen unkompliziert
und klar zu sein, blieben mir jedoch innerlich fremd. Ich wollte tiefer
eindringen, sie verstehen lernen, aber dann hüllten sich diese
Bilder
in Nebel und wurden gespenstisch.
Wenn ich ins Theater ging, bedrückte mich ebenfalls
das Gefühl,
nichts zu begreifen. Die Stoffe waren einfach, gespielt wurde
vortrefflich, doch das Leben blieb fern. Die Helden sprachen so
zurückhaltend und sanft, sie verhielten sich so ruhig und
äußerten kaum
Gefühle, als wollten sie dem Zuschauer keinerlei Stimmungen
aufzwingen,
als wären sie vollkommene Philosophen, und zwar in
idealisierter
Gestalt. Lediglich historische Stücke aus ferner Vergangenheit
weckten
in gewissem Maße vertraute Eindrücke, die Akteure
spielten ebenso
lebhaft und taten ihre privaten Gefühle so offen kund, wie ich
es in
unseren Theatern gewohnt war.
Ins Theater unseres Städtchens zog mich vor allem ein
Umstand: Dort
traten gar keine Schauspieler auf. Die Stücke
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