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Der rote Prophet

Der rote Prophet

Titel: Der rote Prophet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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würde.
    Die zweite Person, die er auf dem Weg traf, war Brustwehr-Gottes. Brustwehr kniete mitten auf der Gemeindewiese vor seinem Geschäft und betete sich das Herz aus dem Leib, während die Kanonen brüllten und die Musketen ihre Kugeln über den Fluß schickten. Measure rief ihm etwas zu, und Brustwehr sah ihn an, als hätte er soeben den wiederauferstandenen Jesus erblickt. »Measure!« rief er. »Halt, halt!«
    Measure wollte eigentlich weiter, wollte sagen, daß er keine Zeit habe, doch da war Brustwehr auch schon mitten auf den Weg gesprungen.
    »Measure, seid Ihr ein Engel oder seid Ihr noch am Leben?«
    »Ich bin noch am Leben, aber nicht dank Harrison. Der hat versucht mich zu ermorden. Ich bin noch am Leben und Alvin auch. Alles war Harrisons Schuld, und ich muß ihm ein Ende setzen.«
    »Nun, so könnt Ihr jedenfalls nicht gehen«, meinte Brustwehr. »Wartet, habe ich gesagt! Ihr könnt dort nicht einfach in einem Lendenschurz erscheinen, über und über mit Schmutz bedeckt, da halten die Euch doch für einen Roten und erschießen Euch auf der Stelle!«
    »Dann springt hinter mir aufs Pferd und gebt mir unterwegs Eure Kleider!«
    Also hob Measure Brustwehr-Gottes hinter sich aufs Pferd, und gemeinsam ritten sie zur Furt hinüber.
    Peter Ferrymans Frau betätigte dort gerade die Winde. Es genügte ihr, einen Blick auf Measure zu werfen, um zu wissen, was zu tun war. »Beeilt Euch«, sagte sie. »Es ist schlimm! Der Fluß färbt sich schon rot.«
    An Bord der Fähre streifte Brustwehr seine Kleider ab, während Measure sich im Wasser etwas reinigte. Zwar war er danach nicht sauber, doch wenigstens sah er in etwas wieder aus wie ein Weißer. Immer noch naß, legte er Brustwehrs Hemd und Hose an und dann auch die Weste. Nichts davon paßte ihm besonders gut, weil Brustwehr kleiner war als er, dennoch zog er mit einem Achselzucken die Jacke an. Während er das tat, sagte er: »Es tut mir leid, Euch hier nur in Euren Sommerunterhosen zurücklassen zu müssen.«
    »Wenn ich damit dieses Massaker beendeten könnte, würde ich mich den halben Tag lang nackt vor allen Damen in der Kirche aufstellen«, erwiderte Brustwehr-Gottes. Falls er mehr gesagt haben sollte, hörte Measure es jedenfalls nicht mehr, weil er schon auf und davon war.
    Nichts lief so, wie Alvin Miller Senior es erwartet hatte. Er hatte sich vorgestellt, daß er mit seiner Muskete auf dieselben kreischenden Wilden schießen würde, die seine Jungen mit Messern bearbeitet und umgebracht hatten. Doch die Stadt war leer, und sie fanden alle Roten auf der Stadtweide vor, als würden sie dort auf eine Predigt ihres Propheten warten. Miller hatte nie gewußt, daß es so viele Rote in Prophetstown gab, weil er sie nicht alle auf einmal an einem Ort gesehen hatte. Aber immerhin waren es doch Rote, nicht wahr? Also feuerte er seine Muskete trotzdem ab, genau wie die anderen Männern, feuerte und lud nach, schaute kaum, ob er überhaupt irgend etwas getroffen hatte. Wie hätte er auch danebenschießen sollen, so eng, wie sie alle nebeneinanderstanden?
    Der Blutrausch hatte ihn gepackt, er war wahnsinnig vor Zorn. Er bemerkte nicht, daß einige der anderen Männer sich zu beruhigen begannen. Daß sie plötzlich weniger schossen. Er lud immer nur nach, feuerte und lud nach, jedesmal eine Elle oder zwei weiter vortretend, heraus aus der Deckung des Waldes, hinaus auf die Lichtung; erst als die Kanonen ausgerichtet wurden, stellte er das Schießen ein, machte ihnen Platz, sah er zu, wie sie riesige Schneisen in die Schar der Roten mähten.
    Da bemerkte er zum ersten Mal richtig, was mit den Roten geschah, was sie taten und was sie nicht taten. Sie schrien nicht, sie wehrten sich nicht. Sie standen einfach nur da, Männer und Frauen und Kinder, blickten zu den Weißen hinüber, die sie töteten. Kein einziger von ihnen kehrte dem Hagel aus Schrapnellgeschossen auch nur den Rücken zu. Kein Vater, keine Mutter versuchte, ein Kind vor dem Feuersturm zu schützen. Sie standen nur da, warteten und starben.
    Die Kartätschen schnitten Breschen in die Menschenmenge. Miller sah die Opfer zu Boden stürzen. Wer es noch konnte, erhob sich wieder oder kniete zumindest nieder, wenn er nicht den Kopf über die Leichenberge hob, um von der nächsten Feuergarbe getötet zu werden.
    Was ist denn das, wollen die etwa sterben?
    Miller blickte sich um. Er und die Männer, die bei ihm waren, standen in einem Meer von Leichen – sie waren bereits an den äußeren Rand der

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