Der rote Prophet
Fenster hinaus auf den See oder den Sturm oder das Ufer schauen konnte. Statt dessen erblickte er andere Dinge.
Er schaute einen Planwagen, der in einem reißenden Fluß gefangen war, einen Baum, der wie ein Rammbock herantrieb, und einen jungen Mann, der auf den Baum zusprang, ihn herumriß und vom Wagen ablenkte. Und dann sah er den Mann, wie er sich im Wurzelwerk des Baumes verhedderte und gegen einen Felsen geschmettert wurde, herumwirbelte und flußabwärts trieb, während er die ganze Zeit darum kämpfte, am Leben zu bleiben, noch eine kleine Weile zu atmen, weiterzuatmen, weiterzuatmen ...
Er schaute eine Frau, die ein Kind gebar, und ein kleines Mädchen, das danebenstand und die Hand vorstreckte und ihren Bauch berührte. Das Mädchen rief etwas, und die Hebamme schob die Hand hinein und zog den Kopf des Säuglings hervor. Die Mutter begann zu bluten. Das kleine Mädchen griff nach unten und riß dem Baby etwas vom Gesicht; das Baby schrie. Der Mann im Fluß hörte diesen Schrei irgendwie, wußte, daß er nun lange genug gelebt hatte, und starb.
Al wußte nicht, was er davon halten sollte. Bis er die flüsternde Stimme des Propheten an seinem Ohr vernahm: »Das erste, was du hier siehst, ist der Tag, an dem du geboren wurdest.«
Das Baby war Alvin Junior; der Mann, der gestorben war, war sein Bruder Vigor gewesen. Doch wer war das Mädchen, das ihm den Mutterkuchen vom Gesicht gerissen hatte? Al hatte sie noch nie in seinem Leben gesehen.
»Ich werde es dir zeigen«, sagte der Prophet. »Dieses Bild bleibt nur ein paar Momente, und ich muß auch selbst noch einige Dinge schauen, aber ich werde es dir zeigen.« Er nahm Alvin bei der Hand, und gemeinsam stiegen sie durch die Glassäule empor.
Es fühlte sich nicht wie Fliegen an, nicht wie das Emporschnellen eines Vogels; es war, als gäbe es weder Oben noch Unten. Der Prophet zog ihn in die Höhe, doch Al begriff nicht, wie er sich selbst aufsteigen ließ. Aber das spielte auch keine Rolle. Dazu gab es zuviel zu sehen. Er konnte in alle beliebigen Richtungen schauen und durch die Turm wand etwas anderes sehen. Bis er begriff, daß jeder Augenblick der Zeit, jedes menschliche Wesen durch diese Turmmauer sichtbar sein mußte. Wie sollte man sich da zurechtfinden? Wie sollte man nach einer bestimmten Geschichte in den Hunderten, Tausenden, Millionen von Augenblicken der vergangenen Zeit suchen?
Der Prophet hielt an, zog den Jungen in die Höhe, bis er sehen konnte, was der Prophet schaute, bis ihre Wangen sich aneinanderpreßten und ihr Atem sich vermischte.
Laut hämmerte der Herzschlag des Propheten in Alvins Ohr.
»Schau«, sagte der Prophet.
Alvin erblickte eine Stadt, die im Sonnenlicht schimmerte. Es schienen Türme aus Eis oder klarem Glas zu sein, denn als die Sonne hinter der Stadt unterging, wurde ihr Licht um kein bißchen matter, und die Stadt warf auch keine Schatten auf das sie umgebende Weideland. In der Stadt waren Menschen, die sich wie helle Schatten hin und her bewegten, die ohne Treppen oder Flügel die Türme hinauf- und hinabstiegen. Doch wichtiger als das, was er sah, war, was er fühlte, wie er diesen Ort betrachtete. Keinen Frieden, nein, an seinem Gefühl war nichts Ruhiges. Er war aufgeregt, sein Herz pumpte so schnell wie das eines Pferdes in vollem Galopp. Die Menschen dort waren nicht vollkommen – manchmal waren sie zornig, manchmal traurig. Doch niemand hungerte, und niemand war unwissend, und niemand mußte etwas tun, nur weil ein anderer ihn dazu zwang. »Wo liegt diese Stadt?« flüsterte Alvin.
»Ich weiß es nicht«, sagte der Prophet. »Jedesmal, wenn ich hierher komme, sehe ich sie in einer anderen Gestalt. Manchmal diese hohen, dünnen Türme, manchmal große Kristallkuppeln, manchmal Menschen, die auf einem Meer aus Kristallen im Feuer leben. Ich glaube, daß diese Stadt in der Vergangenheit viele Male erbaut wurden. Ich glaube, daß sie noch einmal erbaut werden wird.«
»Wirst du sie erbauen? Ist das das Ziel von Prophetstown?«
Dem Propheten traten Tränen in die Augen – sie strömten aus dem gesunden Auge. »Der rote Mann kann diesen Ort nicht allein erbauen«, sagte er. »Wir sind Teil des Landes, und diese Stadt ist mehr als das Land allein. Das Land ist Gut und Böse, Leben und Tod zusammen, die grüne Stille.«
Alvin dachte an sein Gefühl der grünen Musik, sagte aber nichts, weil der Prophet Dinge aussprach, die er hören wollte, und Al war klug genug, um zu wissen, daß es manchmal besser war,
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