Der Rote Sarg
dachte, es wäre …«
»Ich weiß, was Sie dachten, und ich weiß ebenso gut wie Sie, dass sie nicht in Moskau ist. Sie ist noch nicht einmal in diesem Land! Und selbst wenn sie hier wäre, wenn sie direkt vor Ihnen stehen würde, dann würde es auch keine Rolle spielen, weil sie jetzt ein anderes Leben hat. Haben Sie das alles schon vergessen?«
»Nein«, seufzte Pekkala. »Ich habe es nicht vergessen.«
»Kommen Sie, Inspektor, schauen wir uns diesen Panzer an. Vielleicht dürfen wir ja einen mit nach Hause nehmen.«
»Dann müssten wir uns keine Gedanken mehr machen, wenn uns jemand unseren Parkplatz wegnimmt«, sagte Pekkala, als er im Fond des Emka einstieg. »Dann könnten wir einfach auf ihm drauf parken.«
Während sich Kirow in den Verkehr einfädelte, sah Pekkala zurück in die leere Straße, wo er mit den Frauen gestanden hatte, als würde er dort im Schatten den Geist seines früheren Selbst sehen.
Ihr Name war Ilja Simonova. Sie war Lehrerin an der Zarskoje-Grundschule gewesen, gleich außerhalb der Zarenresidenz. Die meisten Palastangestellten hatten ihre Kinder auf die Zarskoje-Schule geschickt, und Ilja hatte ihre Schülerinnen häufig durch den Katharinen- und Alexanderpark geführt. So hatte Pekkala sie kennengelernt; bei einem Gartenfest, das zu Beginn des neuen Schuljahrs veranstaltet worden war. Er hatte nicht direkt daran teilgenommen, sondern war auf dem Heimweg vom Bahnhof daran vorbeigekommen, war an der Schulmauer stehen geblieben und hatte hineingesehen.
Das Einzige, woran sich Pekkala noch ganz genau erinnern konnte, war ihr Anblick: Ilja stand vor dem für diesen Anlass aufgebauten weißen Zelt, sie trug ein hellgrünes Kleid und keinen Hut, so dass er deutlich ihr Gesicht erkennen konnte – ihre hohen Wangenknochen und die hellblauen Augen.
Als Erstes meinte er, er würde sie von irgendwoher kennen. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Aber das war es nicht. Jedenfalls ließ ihn dieses plötzliche Hingezogensein, das er sich nicht erklären konnte, wie angewurzelt stehen bleiben. Und als Nächstes wusste er nur noch, dass eine Frau auf der anderen Seite der Mauer ihn ansprach und ihn fragte, ob er jemanden suche. Sie war groß und würdevoll, ihre grauen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden.
»Wer ist das?«, fragte Pekkala und wies mit einem Nicken zu der Frau im grünen Kleid.
»Das ist unsere neue Lehrerin, Ilja Simonova. Ich bin die Rektorin, Rada Obolenskaja. Und Sie sind der neue Ermittler des Zaren.«
»Inspektor Pekkala«, sagte er und neigte leicht den Kopf.
»Soll ich Sie vorstellen?«
»Ja!«, entfuhr es Pekkala. »Es ist nur … sie sieht wie jemand aus, den ich kenne. Glaube ich zumindest.«
»Verstehe«, sagte Madame Obolenskaja.
»Vielleicht täusche ich mich auch«, sagte Pekkala.
»Ich glaube nicht«, erwiderte sie.
Genau ein Jahr später machte er ihr einen Heiratsantrag.
Ein Datum wurde festgelegt, aber zur Hochzeit sollte es nicht mehr kommen. Zu Beginn der Revolution stieg Ilja in den letzten Zug, der Petrograd noch verließ, und reiste ab mit Ziel Paris, wo Pekkala, wie er ihr versprach, sofort nachkommen wollte, sobald der Zar ihm die Erlaubnis gab, das Land zu verlassen. Was Pekkala nicht mehr gelang. Einige Monate später wurde er beim Versuch, die Grenze nach Finnland zu überqueren, von der bolschewistischen Miliz festgenommen. Damit begann seine Reise nach Sibirien, und es sollte viele Jahre dauern, bis er wieder die Möglichkeit haben würde, das Land zu verlassen.
» E s steht Ihnen frei zu gehen«, sagte Stalin, »aber bevor Sie Ihre Entscheidung treffen, sollten Sie etwas erfahren.«
»Was?«, fragte Pekkala nervös. »Was muss ich erfahren?«
Stalin musterte ihn eingehend, als würden die beiden gegeneinander Karten spielen. Er zog eine Schreibtischschublade auf und holte eine Fotografie heraus. Er betrachtete sie kurz, bevor er sie auf den Schreibtisch fallen ließ und sie Pekkala hinschob.
Es war Ilja. Pekkala erkannte sie sofort. Sie saß an einem kleinen Cafétisch. Hinter ihr auf der Markise las Pekkala die Wörter »Les Deux Magots«. Sie lächelte, während sie zu etwas links von der Kamera sah. Ihre weißen Zähne leuchteten. Widerstrebend ging Pekkalas Blick zu dem Mann, der neben ihr saß. Er war schlank, hatte dunkle, nach hinten gekämmte Haare und trug Anzug und Krawatte. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er eine Zigarette auf die »russische Art«, mit der Glut über der Handinnenfläche, als wollte er damit die
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