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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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herunterfallende Asche auffangen. Er lächelte, genau wie Ilja. Beide betrachteten etwas, das gleich links von der Kamera sein musste. Neben dem Tisch befand sich ein Gegenstand, den Pekkala im ersten Moment gar nicht erkannte, weil es so lange her war, dass er so etwas gesehen hatte. Es war ein Kinderwagen. Das Verdeck war nach oben gezogen, um das Kind vor der Sonne zu schützen.
    Pekkala stockte der Atem.
    Leise räusperte sich Stalin. »Sie dürfen ihr keine Schuld geben«, sagte Stalin. »Sie hat gewartet, Pekkala. Sehr lange. Über zehn Jahre. Aber man kann nicht ewig warten, nicht wahr?«
    Pekkala starrte auf den Kinderwagen. Er fragte sich, ob das Kind ihre Augen hatte.
    »Wie Sie sehen«, und Stalin deutete auf das Bild, »ist Ilja jetzt glücklich. Sie hat eine Familie. Sie ist Lehrerin, für Russisch natürlich, an der renommierten École Stanislas. Sie hat versucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Etwas, was wir alle an einem bestimmten Punkt im Leben tun müssen.«
    Langsam hob Pekkala den Kopf, bis er Stalin in die Augen schaute. »Warum zeigen Sie mir das?«, fragte er.
    Stalins Lippen zuckten. »Wäre es Ihnen lieber gewesen, Sie wären nach Paris gefahren, bereit, ein neues Leben zu beginnen, nur um herauszufinden, dass sie unerreichbar ist?«
    »Unerreichbar?« In Pekkalas Kopf drehte sich alles. Seine Gedanken rasten.
    »Sie können natürlich immer noch abreisen.« Stalin zuckte mit den Schultern. »Aber mit ihrem Seelenfrieden, den sie in den letzten Jahren möglicherweise gefunden hat, wäre es dann vorbei. Und nehmen wir einfach mal an, Sie könnten sie dazu überreden, ihren Ehemann zu verlassen. Nehmen wir an, sie lässt auch ihr Kind zurück …«
    »Hören Sie auf«, sagte Pekkala.
    »Ein solcher Mensch sind Sie nicht, Pekkala. Sie sind nicht das Ungeheuer, für das Ihre Feinde Sie früher gehalten haben. Wären Sie es, hätten Sie nie einen solch bemerkenswerten Gegner für Menschen wie mich abgegeben. Ungeheuer sind leicht zu besiegen. Es ist nur eine Frage der Zeit und des Blutzolls, denn ihre einzige Waffe ist die Angst. Sie aber, Pekkala, haben die Herzen der Menschen gewonnen und sich den Respekt Ihrer Feinde erworben. Ich glaube nicht, dass Ihnen klar ist, wie selten so etwas ist. Und sie sind immer noch da, die Menschen, deren Herzen Sie gewonnen haben.« Stalin zeigte zum Fenster und dem blassblauen Herbsthimmel dahinter. »Die Menschen haben Sie nicht vergessen, Pekkala, und ich glaube, Sie haben sie auch nicht vergessen.«
    »Nein«, flüsterte Pekkala. »Ich habe sie nicht vergessen.«
    »Was ich Ihnen sagen will, Pekkala: Wenn Sie wollen, können Sie jederzeit das Land verlassen. Ich setze Sie, wenn Sie wollen, in den nächsten Zug nach Paris. Oder Sie können hierbleiben, wo Sie wirklich gebraucht werden und wo es für Sie immer einen Platz gibt – wenn Sie wollen.«
    Bis zu diesem Moment wäre Pekkala nie in den Sinn gekommen, in Russland zu bleiben. Aber jetzt wurde ihm bewusst, dass er als letzte Liebesbezeigung die Frau, die er einst hatte heiraten wollen, im Glauben lassen musste, dass er tot war.

M ittlerweile fuhren sie durch eine ländliche Gegend, der Motor des Emka schnurrte, während Kirow über die staubige Moskauer Fernstraße raste.
    »Glauben Sie, ich habe einen Fehler gemacht?«, fragte Pekkala.
    »Fehler? Wobei, Inspektor?«, fragte Kirow und warf Pekkala im Rückspiegel einen kurzen Blick zu.
    »Dass ich hiergeblieben bin. In Russland. Ich hatte die Möglichkeit zu gehen, und ich habe sie nicht wahrgenommen.«
    »Ihre Arbeit ist wichtig hier«, antwortete Kirow. »Warum, glauben Sie, habe ich wohl darum gebeten, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Inspektor?«
    »Ich erachte das als eine Frage, die nur Sie etwas angeht.«
    »Weil ich jeden Tag, an dem ich mich nachts zum Schlafen hinlege, weiß, dass ich etwas getan habe, was wirklich wichtig ist. Wer kann das von sich schon behaupten?«
    Pekkala ging darauf nicht ein. Er fragte sich, ob Kirow recht hatte – oder ob er, als er sich bereit erklärt hatte, für Stalin zu arbeiten, sämtliche Ideale verraten hatte, für die er jemals eingetreten war.
    Graue Wolken hingen niedrig über den Baumwipfeln.
    Irgendwann, als sie sich Nagorskis Anlage näherten, tauchte an einer Seite der Straße ein hoher Metallzaun auf, der sich schier endlos in die Ferne zu erstrecken schien. Der Zaun war an die vier Meter hoch und ragte oben ein Stück über, darauf saßen vier Reihen Stacheldraht. Hinter dem Zaun gab es

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