Der Rote Sarg
Wald befand. Das Pferd, das er sonst immer vorgespannt hatte, war in jenem Winter auf dem Eis ausgerutscht und hatte gelahmt, weshalb er den Schlitten hatte allein ziehen müssen.
Man hatte den Alten auf den Knien vor dem Schlitten gefunden; die Hände ruhten auf den Hüften, das Kinn war auf die Brust gesunken. Um die Schultern hatte er den Zugriemen geschlungen, mit dem sonst das Pferd vor den Schlitten gespannt war. Der Tote sah aus, als hätte er nur kurz innegehalten, um sich auszuruhen, so, als könnte er jeden Augenblick wieder aufstehen, um weiter seine Last zu ziehen.
Es war der Wunsch seines Vaters gewesen, dass Pekkala sich zum Garderegiment meldete, statt ihm zu Hause bei der Arbeit zu helfen. Trotzdem konnte Pekkala es sich nie verzeihen, dass er den alten Mann im Stich gelassen hatte.
Jetzt entdeckte Pekkala im Gesicht des jungen Mannes die gleichen Gefühlsregungen.
Plötzlich ergriff Konstantin das Wort: »Werden Sie den Mörder meines Vaters finden?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt ermordet wurde. Aber wenn, dann werde ich den Täter aufspüren.«
»Finden Sie ihn«, sagte Konstantin. »Finden Sie ihn und sorgen Sie dafür, dass er hingerichtet wird.«
Die Lichter von Autoscheinwerfern strichen durch den Raum, dann hielt Maximows Wagen vor dem Haus. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. »Warum ist es hier so finster?«, fragte Nagorskaja und beeilte sich, eine Kerosinlampe anzuzünden.
Konstantin erhob sich. »Hast du ihn gesehen? Stimmt es? Ist er wirklich tot?«
»Ja«, antwortete sie. Tränen traten ihr in die Augen. »Er ist wirklich tot.«
Pekkala ließ sie mit ihrer Trauer allein und trat hinaus zu Maximow, der auf der Veranda eine Zigarette rauchte.
»Heute ist sein Geburtstag«, sagte Maximow. »Der Junge hat ein besseres Leben verdient als das hier.«
Pekkala erwiderte nichts darauf.
Tabakgeruch hing in der feuchten Nachtluft.
Pekkala kehrte zur Anlage und zu der von Uschinskij als das Eisenhaus bezeichneten Hauptfertigungshalle zurück. An einer Wand hingen Motoren in Holzgerüsten. An der gegenüberliegenden Wand waren auf Schienen die nackten Wannen der Panzer aufgereiht, an ihren Schweißnähten bildete sich bereits wieder Rost, so als wäre der Stahl mit Zimtpulver besprenkelt. An einer anderen Stelle waren Maschinengewehre der Reihe nach ausgelegt. Hoch aufragende Eisenträger stützten das Dach. Für Pekkala strahlte der Ort Leblosigkeit aus, so als wären die Panzer nicht für die Zukunft bestimmt, sondern Überreste aus einer fernen Vergangenheit – wie die Knochen von einst furchterregenden Dinosauriern, die nur darauf warteten, von den Archäologen wieder zusammengesetzt zu werden.
Ein Tisch war von den NKWD-Leuten in aller Eile freigeräumt worden, Motorteile lagen auf dem Boden verstreut. Auf dem Tisch waren jetzt die Überreste von Oberst Nagorski aufgebahrt. Die weiße, stellenweise aufgerissene, blutleere Haut schien unter den Lampen zu leuchten. Major Lysenkowa, die den Leichnam untersucht hatte, zog gerade einen Regenumhang über den Toten.
Neben ihr stand ein sehr angespannter Kirow. Er hatte bereits mit Leichen zu tun gehabt, niemals aber mit einem derart verstümmelten Körper wie diesem hier.
Sogar Lysenkowa wirkte bestürzt, obwohl sie sich sichtlich Mühe gab, es zu verbergen. »Es lässt sich natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen«, begann die Kommissarin, »aber alles deutet auf einen Getriebedefekt hin. Nagorski hat allein eine Probefahrt unternommen, er kuppelt aus, verlässt den Panzer, weil er etwas nachsehen will, und plötzlich muss von allein der Gang reingesprungen sein. Er verliert das Gleichgewicht, der Panzer rollt über ihn hinweg, bevor der Motor abstirbt. Ein Unfall. Davon können wir wohl ausgehen.«
Kirow hinter ihr schüttelte ganz langsam den Kopf.
»Haben Sie mit den Mitarbeitern gesprochen?«, fragte Pekkala.
»Ja«, antwortete Lysenkowa. »Alle haben ein Alibi, keiner hat sich zum Todeszeitpunkt in Nagorskis Nähe aufgehalten.«
»Was ist mit dem Mann, den wir im Wald verfolgt haben?«
»Wer immer es war, er arbeitet jedenfalls nicht hier. Wenn es, wovon wir ausgehen, ein Unfall war, dann war dieser Mann vielleicht nur ein Jäger, der sich irgendwie auf das Gelände verirrt hat.«
»Warum ist er dann weggerannt, als er aufgefordert wurde, stehen zu bleiben?«
»Wenn Männer mit Pistolen hinter Ihnen her wären, Inspektor Pekkala, würden Sie dann nicht auch weglaufen?«
Pekkala ging darauf nicht ein.
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