Der Rote Sarg
»Haben Sie was dagegen, wenn ich mir die Leiche ansehe?«
»Nein«, sagte sie irritiert. »Aber beeilen Sie sich. Ich fahre nach Moskau zurück, ich muss meinen Bericht abliefern. Nagorskis Leichnam wird so lange hierbleiben. Wir werden Wachposten aufstellen, die dafür sorgen, dass sich keiner mehr daran zu schaffen macht. Ich gehe davon aus, dass Sie bis dahin fertig sind.«
Die beiden Männer warteten, bis Lysenkowa das Gebäude verlassen hatte.
»Was haben Sie herausgefunden?«, fragte Pekkala Kirow.
»Was sie über die Wissenschaftler gesagt hat, stimmt. Die Wachposten können für den Zeitpunkt von Nagorskis Tod allen ein Alibi geben. Während der Arbeitszeit ist in jedem Gebäude ein Wachmann postiert, was bedeutet, dass auch die Wissenschaftler das Alibi der Wachleute bestätigen können. Samarin hat am Morgen seine übliche Runde gedreht und war dabei von allen gesehen worden.«
»Wird jemand vermisst?«
»Nein, und es sieht danach aus, als ob niemand bei Nagorski war, als er ums Leben gekommen ist.« Kirow richtete seine Aufmerksamkeit auf den Tisch, wo sich unter dem Regenumhang grob die Konturen des Leichnams abzeichneten. »Aber sie täuscht sich, wenn sie meint, dass es ein Unfall war.«
»Dem stimme ich zu«, sagte Pekkala. »Wie sind Sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen?«
»Sehen Sie lieber selbst, Inspektor«, erwiderte Kirow.
Pekkala griff nach dem Regenumhang und zog ihn langsam zurück, bis Nagorskis Kopf und Schultern freilagen. Bei dem Anblick atmete er tief durch.
Von Nagorskis Gesicht war nur noch eine ledrige Maske übrig, die Überreste des darunterliegenden Schädels glichen eher zersplittertem Geschirr als Knochen. Er hatte nie eine Leiche zu Gesicht bekommen, die so zertrümmert gewesen war wie diese.
»Hier.« Kirow deutete auf eine Stelle, an der das Schädelinnere freilag.
Vorsichtig hielt Pekkala den Kiefer des Toten fest und drehte den Kopf zur Seite. Im gleißenden Licht der Arbeitslampe blitzte etwas Silbernes auf.
Pekkala zog ein Springmesser mit Beingriff aus der Tasche, ließ die Klinge aufschnappen, hebelte anschließend mit der Messerspitze das silberne Objekt heraus und streifte es auf seiner Handfläche ab. Nun war es deutlich zu erkennen. Es handelte sich nicht um Silber, sondern um Blei.
»Was ist das?«, fragte Kirow.
»Ein Geschossfragment.«
»Das schließt einen Unfall aus.«
Pekkala nahm sein Taschentuch heraus, wickelte den Bleiklumpen darin ein und schob es wieder in die Hosentasche.
»Könnte es Selbstmord gewesen sein?«, fragte Kirow.
»Das werden wir sehen.« Pekkala wandte sich wieder Nagorskis verheertem Gesicht zu und suchte nach einer Eintrittswunde. Er umfasste den Schädel, fuhr mit den Fingern durch die nassen Haare, bis er an der Schädelbasis eine rauhe Kante spürte. Er presste den Finger in die Wunde und ertastete die Flugbahn bis zur Austrittsöffnung an der rechten Gesichtsseite, wo Haut und Fleisch weggerissen waren. »Das war kein Selbstmord«, sagte Pekkala.
»Warum sind Sie sich da so sicher?«, fragte Kirow.
»Wenn sich jemand mit einer Pistole umbringt, hält er sich die Waffe an die rechte Stirn, wenn er Rechtshänder ist, oder an die linke Stirn, wenn er Linkshänder ist. Oder, falls er weiß, was er tut, steckt er sich die Pistole in den Mund, schießt durch den Gaumen und zerstört damit die Medulla oblongata, wodurch er auf der Stelle tot ist.« Er zog den Regenumhang über den Leichnam und wischte sich an einer Ecke des Umhangs das geronnene Blut von den Händen.
»Wie kann man sich bloß so daran gewöhnen?«, fragte Kirow, als er sah, wie sich Pekkala das Blut unter den Fingernägeln herauskratzte.
»Man kann sich an fast alles gewöhnen.«
Als die drei NKWD-Wachen eintrafen, verließen sie die Halle. Draußen blieben sie mit gegen den Sprühregen hochgeklapptem Kragen in der Dunkelheit stehen.
»Sie wissen ganz sicher, dass Major Lysenkowa die Kugel in Nagorskis Schädel nicht entdeckt hat?«, fragte Pekkala.
»Sie hat sich die Leiche kaum angeschaut«, erwiderte Kirow. »Mir kam es so vor, als wollte sie das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen.«
Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf. Es war Maximow, der auf sie gewartet hatte. »Ich muss es wissen«, sagte er. »Was ist mit Oberst Nagorski passiert?«
Kirow sah zu Pekkala.
Pekkala nickte kaum wahrnehmbar.
»Er wurde erschossen«, antwortete Kirow.
Maximows Kiefer zuckte. »Es ist meine Schuld«, murmelte er.
»Warum sagen Sie
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