Der Rote Sarg
eingetreten war. »Unser Oberarzt hat herausgefunden, dass die Schusswunde im Kopf von einem Hohlspitzgeschoss stammt. Bei allen Waffen dieses Kalibers werden Patronen mit hartem Kupfermantel verwendet. Bei allen bis auf einer.« Wassilijew deutete auf Pekkalas Brust, wo sein Revolver im Schulterholster steckte. »Holen Sie ihn raus.«
Verwirrt kam Pekkala der Aufforderung nach.
Wassilijew nahm den Revolver, öffnete die Kammer und leerte die großen .455-Kaliber-Patronen auf den Tisch.
»Wollen Sie damit sagen, dass ich etwas damit zu tun habe?«, fragte Pekkala.
»Nein!«, kam es ungehalten von Wassilijew. »Schauen Sie sich die Patronen an! Hohlspitzgeschosse. Die einzige Waffe, die in dieser Größe und mit dieser Munition erhältlich ist, ist der britische Webley-Revolver; die Waffe, die der Zar Ihnen zum Geschenk gemacht hat und die er von seinem Vetter, König George dem Fünften von England, bekommen hat.«
»Die Briten haben Rasputin ermordet?«
Wassilijew zuckte mit den Schultern. »Sie waren daran beteiligt, Pekkala. So viel ist sicher. Zumindest mehr oder weniger.«
»Aber warum?«
»Sie waren nicht unbedingt glücklich über Rasputin. Auf Betreiben dieses Verrückten sind mehrere britische Berater mit Schimpf und Schande nach Hause geschickt worden.«
»Sind deswegen die Ermittlungen eingestellt worden?«
»Eingestellt?«, lachte Wassilijew. »Die Ermittlungen wurden niemals aufgenommen. Was ich Ihnen gerade erzählt habe, wird nie Eingang in die Geschichtsbücher finden. In Zukunft, Pekkala, wird man sich nicht darüber den Kopf zerbrechen, wer Rasputin umgebracht hat, sondern sich fragen, wer es nicht gewesen war.«
Während des kurzen Trauergottesdienstes stand Pekkala an der halb geöffneten Kirchentür und sah über das Gelände von Zarskoje Selo. Weihrauchduft zog an ihm vorbei und hinaus in die frische Luft.
Es war kalt in der Kapelle. Die Romanows trugen Pelzmäntel. Während der Grabrede des Priesters weinte die Zarin und drückte sich ein Spitzentaschentuch an den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.
Pekkala sah zu den Töchtern, die Rasputin eine Ikone auf die Brust legten. Der Zar und Alexej standen etwas abseits.
»Das ist doch nicht gerecht!«, schrie die Zarin, als der Sarg geschlossen wurde.
Erschrocken trat der Priester zurück.
Der Zar hakte sich bei seiner Frau unter. »Es ist vorbei«, sagte er. »Mehr können wir nicht tun.«
Sie brach in seinen Armen zusammen und barg schluchzend den Kopf an seiner Brust. Und dann begann sie wieder vor sich hin zu sagen: »Möge Gott uns beistehen. Möge Gott uns beistehen.«
Als die Romanows kurz darauf die Kapelle verließen, stellte sich Pekkala an die Tür und ließ sie vorbei.
Die Zarin blieb bei ihm stehen. »Ich wollte Ihnen danken«, flüsterte sie, »dass Sie hier auf Erden auf uns aufpassen. Jetzt haben wir zwei Schutzengel. Einen hier, und einen dort oben.«
Als Pekkala der Zarin in die geröteten Augen sah, musste er wieder daran denken, was Rasputin ihm gesagt hatte, als er an jenem Abend aus der Kälte gekommen war: »Sie sehen, Pekkala, die Zarin liebt mich, weil ich genau das bin, was sie braucht. Aber so, wie sie mich jetzt an ihrer Seite braucht, wird eine Zeit kommen, in der es nötig ist, dass ich nicht mehr bin.«
Erneut nahm der Zar seine Frau am Arm. »Unser Freund ist von uns gegangen«, murmelte er ihr ins Ohr. »Wir sollten jetzt auch gehen.«
Seinen Gesichtsausdruck – Angst vermischte sich mit Resignation – hatte Pekkala an ihm noch nie gesehen; es war, als hätte der Zar durch einen Riss im Gewebe der Zeit einen Blick auf seinen schnell näher rückenden Untergang geworfen.
P ekkala sah Kropotkin hinterher, als der die Straße überquerte und im Regendunst verschwand.
Dann ging er in sein Büro zurück.
Eine Stunde später, nachdem Kirow immer noch nicht zurückgekehrt war, wurde er allmählich nervös. Es hatte im vergangenen Jahr so viele Verhaftungen gegeben, dass sich keiner mehr sicher fühlen konnte, gleichgültig, welchen Rang er einnahm oder wie unschuldig er war. Kirow mit seinem Idealismus war ein glühender Verfechter des Staates und seiner Gesetze, genau aus diesem Grund aber konnte er leicht selbst der Willkür zum Opfer fallen, mit der diese Gesetze angewendet wurden. Pekkala hatte es oft genug erlebt – je stärker die Überzeugungen, umso größer unterschied sich die Welt, wie sie in der Vorstellung sein sollte, von der wirklichen Welt.
Gleichzeitig wusste Pekkala, dass
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