Der Rote Sarg
räusperte sich. »Er hat einen Schattenpass.«
Der Fahrer wirkte plötzlich völlig verdattert, wie ein Schlafwandler, der in einem anderen Stadtteil aufwachte.
»Es ist Pekkala«, sagte das Rattengesicht.
»Was?«
»Inspektor Pekkala, du Idiot! Vom Büro für besondere Operationen.«
»Es war deine Idee gewesen, anzuhalten!«, beschwerte sich der Fahrer. Er stieß einen weiteren Fluch aus und steckte die Waffe hastig ins Holster zurück.
Das Rattengesicht klappte Pekkalas Pass zu. »Entschuldigen Sie, Inspektor«, sagte er, während er ihn zurückgab.
Erst jetzt ließ Pekkala den Revolver sinken. »Ich nehme den Wagen«, sagte er.
»Unseren Wagen?«, fragte der Fahrer und wurde blass.
»Ja«, erwiderte Pekkala. »Ich requiriere Ihr Fahrzeug.« Er ging zur Fahrerseite.
»Das können Sie nicht machen!«, sagte der Fahrer. »Der Wagen gehört uns!«
»Halt die Schnauze, du Idiot!«, blaffte das Rattengesicht. »Bist du taub? Er hat einen Schattenpass. Wir können ihn nicht festnehmen. Wir können ihn nicht verhören. Wir können ihn noch nicht mal nach der verdammten Uhrzeit fragen! Er ist berechtigt, dich zu erschießen, und keiner hat das Recht, ihn zu fragen, warum er es getan hat. Und er ist berechtigt, alles zu requirieren, was er will – unsere Waffen, unseren Wagen. Wenn er will, lässt er dich hier nackt auf der Straße stehen.«
»Er zieht ein wenig nach links«, sagte der Fahrer. »Und der Vergaser müsste neu eingestellt werden.«
»Sei endlich still und geh zur Seite!«, brüllte das Rattengesicht.
Mit einer ruckartigen Bewegung, als hätte ihm jemand einen Stromschlag verpasst, warf der Fahrer Pekkala den Schlüssel zu.
Pekkala setzte sich ans Steuer. Die beiden Männer standen auf dem Bürgersteig und stritten sich – das war das Letzte, was er von ihnen sah, als er seinen Weg zu Kirows Wohnung in der Pretschistenka-Straße im Auto fortsetzte. Dort blieb er eine Weile im Wagen sitzen und versuchte, wieder ruhig und gleichmäßig zu atmen.
» W enn Sie mit einer Waffe bedroht werden«, sagte Oberinspektor Wassilijew, »dann lassen Sie sich niemals anmerken, dass Sie Angst haben. Wenn der andere nämlich sieht, dass Sie Angst haben, wird er eher abdrücken.«
Jeden Abend während seiner Ausbildungszeit bei der Ochrana ging Pekkala zu Wassilijew. Was Pekkala von den anderen Agenten lernte, machte aus ihm einen Ermittler; was er von Wassilijew lernte, rettete ihm das Leben.
»Aber«, erwiderte Pekkala, »wenn ich zeige, dass ich Angst habe, bin ich für den anderen doch keine so große Bedrohung mehr.«
»Ich rede nicht davon, wie es sein sollte«, antwortete Wassilijew, »sondern davon, wie es ist.«
Obwohl der Oberinspektor ständig in Rätseln sprach, freute sich Pekkala immer auf ihn. Sein Büro war klein und bequem eingerichtet, an den Wänden hingen altertümliche Waffen und Lithographien mit Jagdszenen. Hier verbrachte Wassilijew die meiste Zeit, brütete über Berichten und empfing Besucher. Als junger Mann war er oft unerkannt durch die Stadt gezogen und hatte sich so einen gewissen Ruf erworben. Niemand, sagte man, könne sich in Petrograd vor Wassilijew verstecken, weil er jeden Winkel der Stadt kenne. Damit war es vorbei, als er eines Tages die Stufen des Polizeigebäudes hinunterging und den gerade eingetroffenen Leiter der Moskauer Ochrana empfangen wollte. Wassilijew stand kurz vor dem Wagen, in dem sein Gast angekommen war, als ein durch die Autoscheibe geschleuderter Sprengsatz explodierte. Der Moskauer Leiter war auf der Stelle tot, Wassilijew wurde so schwer verletzt, dass er für den Rest seiner Dienstzeit an den Schreibtisch gefesselt war.
»Wer keine Angst hat«, fuhr Wassilijew fort, »lebt nicht lange. Angst schärft die Sinne. Angst kann Ihnen das Leben retten. Aber lernen Sie, sie zu verbergen, Pekkala. Begraben Sie Ihre Angst tief in sich, damit Ihre Feinde sie Ihnen nicht anmerken.«
A ls seine Atmung sich wieder normalisiert hatte, warf Pekkala die Schlüssel ins Handschuhfach, stieg aus und ging zu Kirows Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Die Fassade war frisch in einem fröhlichen Orange gestrichen. Große, weiß gerahmte Fenster blickten auf die breite Allee herab.
Pekkala klopfte an die Tür zu Kirows Wohnung, trat zwei Schritte zurück und wartete.
Nach einer Minute ging die Tür einen Spaltbreit auf, und Kirow spähte heraus. Er blinzelte, die Haare standen ihm in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab. Hinter ihm an den Wänden
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