Der Rote Sarg
Zeitschaltuhr geben, aber wo sich diese befand, wusste er natürlich nicht. Im ersten Moment war es so dunkel, dass er glaubte, er wäre erblindet. Nur allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, so konnte er schließlich jeweils den unteren Spalt der Geheimtüren ausmachen, die sich wie graue Lichtbänder in regelmäßigen Abständen durch den Gang zogen.
Die gelben Beschriftungen an den Türen waren nicht zu erkennen. Er tastete sich mit dem Rücken an der Wand entlang und wählte gleich die erste Tür, auf die er traf, fand den Hebel und zog daran.
Die Geheimtür schwang auf.
Pekkala hörte das Klacken hoher Absätze auf dem Marmorboden und wusste sofort, dass er in einem der Hauptkorridore des Kongresspalastes gelandet war – das Gebäude, das sich an den Kremlpalast, in dem Stalins Büro untergebracht war, anschloss. Er trat durch die Öffnung und stieß beinahe mit einer Frau in mausgrauem Rock und der schwarzen Bluse der Kreml-Sekretärinnen zusammen. Sie trug einen Aktenstapel, den sie, als Pekkala urplötzlich wie ein Geist aus der Wand vor ihr auftauchte, mit einem lauten Aufschrei in hohem Bogen in die Luft warf.
»Na, ich gehe dann lieber mal«, sagte er, während die Papiere um ihn herum zu Boden flatterten. Lächelnd verabschiedete er sich und entfernte sich eiligst.
»Sie haben wieder Ihre Waffe vergessen, oder?«, fragte Pekkala auf dem Weg zur Nagorski-Anlage.
»Nein, ich habe sie nicht vergessen«, erwiderte Kirow, »ich habe sie absichtlich nicht mitgenommen. Wir wollen doch bloß mit Wissenschaftlern reden, die werden uns keine Probleme machen.«
»Sie sollten Ihre Waffe immer bei sich haben!«, blaffte Pekkala. »Halten Sie an!«
Gehorsam brachte Kirow den Wagen zum Stehen und drehte sich zu Pekkala um. »Was ist los, Inspektor?«
»Wo ist der Proviant, den Sie mitgebracht haben?«
»Im Kofferraum. Warum?«
»Kommen Sie mit«, sagte Pekkala und stieg aus. Aus dem Kofferraum nahm er den Leinwandbeutel, in dem sich zwei belegte Brote und einige Äpfel befanden, und marschierte damit auf das an der Straße gelegene Feld zu. Auf dem Weg blieb er nur kurz stehen, um von einem Baum einen abgestorbenen Zweig von der Größe eines Spazierstocks zu brechen.
»Wo wollen Sie mit dem Proviant hin?«
»Rühren Sie sich nicht vom Fleck!«, rief Pekkala. Nach einer nicht allzu weiten Strecke blieb er stehen, steckte den Zweig in den Boden, holte einen Apfel aus dem Beutel und spießte ihn darauf.
»Der ist eigentlich zum Essen gedacht!«, rief Kirow.
Pekkala ging nicht darauf ein. Er kam zu Kirow zurück, zog seinen Webley und überreichte ihn mit dem Griff voraus seinem Assistenten. Er drehte sich um und zeigte zum Apfel. »So, was wir jetzt machen …«, begann er und zuckte zusammen, als der Revolver losging. »Um Himmels willen, Kirow, Sie müssen vorsichtig damit umgehen! Nehmen Sie sich Zeit, zielen Sie richtig. Es gibt eine Menge, worauf zu achten ist. Atmung. Fester Stand. Wie man die Waffe hält. Das alles braucht seine Zeit.«
»Ja, Inspektor«, erwiderte Kirow kleinlaut.
»Also«, sagte Pekkala und sah zum Apfel. »Wie? Wo ist er hin? Oh, verdammt, er ist runtergefallen.« Er ging zu dem Stecken zurück, aber schon nach wenigen Schritten bemerkte er die überall verstreuten Apfelstücke. Der Apfel schien regelrecht explodiert zu sein. Pekkala benötigte einige weitere Sekunden, bis es ihm endlich dämmerte, dass Kirow den Apfel mit dem ersten Schuss getroffen hatte. Er fuhr herum und starrte ihn an.
»Tut mir leid«, sagte Kirow. »Hatten Sie was anderes im Sinn?«
»Gut«, knurrte Pekkala, »nicht schlecht für den Anfang. Aber bilden Sie sich nicht zu viel darauf ein. Schließlich wollen wir das Ziel nicht nur einmal, sondern immer treffen. Oder fast immer.« Er holte einen zweiten Apfel aus dem Beutel und spießte ihn ebenfalls auf.
»Und was sollen wir essen?«, fragte Kirow.
»Schießen Sie erst, wenn ich bei Ihnen bin«, befahl Pekkala, während er zurückging. »Wichtig ist, sicheren Stand zu haben und die Waffe fest, aber nicht zu fest zu halten. Der Webley ist eine fein ausbalancierte Waffe, aber er hat einen enormen Rückstoß, sehr viel größer als der einer Tokarew.«
Beiläufig hob Kirow den Webley und feuerte.
»Verdammt, Kirow!«, wütete Pekkala. »Sie sollen erst schießen, wenn Sie bereit sind!«
»Ich war bereit!«, erwiderte Kirow.
Blinzelnd sah Pekkala zu dem Zweig. Vom zweiten Apfel war nichts mehr übrig. Pekkalas Mundwinkel zuckten.
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