Der Rote Sarg
seinem Schreibtisch Platz. »Inspektor, ich habe nachgedacht …«
»Ich habe auch nachgedacht«, erwiderte Pekkala. »Über die Regeln. In der Lubjanka habe ich heute alle Regeln gebrochen, die ich Ihnen beigebracht habe. Wenn Sie wegen meines Verhaltens einen Bericht verfassen wollen, werde ich Ihre Entscheidung unterstützen.«
Kirow lächelte. »Nicht jede Regel, Inspektor. Sie haben mir mal gesagt, man soll das tun, womit man leben kann. Deswegen haben Sie im Gefängnis so gehandelt, wie Sie es getan haben, und das tue ich jetzt auch. Vergessen wir diesen Bericht. Außerdem ist Nagorskis Mörder noch auf freiem Fuß, es steht also Arbeit an.«
»Da haben Sie recht.« Pekkala trat ans Fenster und sah über die Dächer der Stadt. Die grauen Schieferschindeln schimmerten im Abendlicht. »Sie haben ihr Geständnis, aber sie kennen die Wahrheit nicht. Noch nicht.« Dann atmete er durch und seufzte, wobei die Fensterscheibe beschlug. »Danke, Kirow«, sagte er.
»Wir werden dafür sorgen, dass Major Lysenkowa nicht allen Ruhm einheimst.« Kirow verschränkte die Arme und ließ sich gegen die Lehne fallen. »Dieses Miststück.«
»Weil Sie von ihr mehr ausgenutzt wurden als umgekehrt?«
»Darum geht es nicht«, protestierte Kirow. »Aber ich fing gerade an, sie richtig gernzuhaben.«
»Dann wurden Sie von ihr aber richtig ausgenutzt«, sagte Pekkala.
»Ich verstehe nicht, wie Sie so aufgeräumt sein können«, sagte Kirow. »Immerhin hätte ich Sie heute fast erschossen.«
»Aber Sie haben es nicht getan, und das ist Grund genug zum Feiern.« Pekkala öffnete eine Schreibtischschublade, zog eine seltsam rundliche, mit einem Korken verschlossene Flasche heraus, die in einer geflochtenen Weidenhülle steckte. Darin befand sich sein Zwetschgenbrand, den er in kleinen Mengen von einem liebeskranken Ukrainer auf dem Sucharewka-Markt bekam.
Wie bei so vielen Dingen, die man auf diesem Markt erhielt, musste er dafür nicht zahlen, sondern eine Gegenleistung erbringen. Der Ukrainer hatte eine Freundin in Finnland. Er hatte sie kennengelernt, als er auf einem Handelsschiff in der Ostsee unterwegs gewesen war. Sie schrieb ihm in ihrer Landessprache, und Pekkala übersetzte ihm die Briefe. Dann erging sich der Ukrainer in Liebesschwüren, und Pekkala übersetzte das alles für die Finnin. Dafür und für sein Stillschweigen bekam er im Monat einen halben Liter.
»Der Sliwowitz!«, rief Kirow aus. »Das ist schon mehr nach meinem Geschmack!« Er holte zwei Gläser vom Regal, blies den Staub fort und stellte sie vor Pekkala.
Pekkala schenkte beide Gläser mit der gelblichen Flüssigkeit voll und schob Kirow eines hin.
Zum Zuprosten hoben sie die Gläser bis auf Stirnhöhe.
Und als er trank, entfaltete sich in seinem Geist das Zwetschgenaroma, der Geschmack der reifen, indigofarbenen Frucht. »Wissen Sie«, sagte er, nachdem das Brennen in der Kehle nachgelassen hatte, »dass das der einzige Schnaps ist, den der Zar angerührt hat?«
»Das war aber nicht sehr patriotisch«, erwiderte Kirow heiser nach dem hochprozentigen Alkohol, »wenn man als Russe nicht hin und wieder einen Tropfen Wodka zu sich nimmt.«
»Er hatte seine Gründe«, sagte Pekkala und beließ es dabei.
P ekkala stand auf dem weiten Gelände des Alexanderparks.
Es war ein Abend Ende Mai. Die Tage wurden länger, der Himmel war noch lange nach Sonnenuntergang hell. Die rosa-weißen Blüten der Hartriegelhölzer waren abgefallen und von glänzenden limonengrünen Blättern ersetzt worden. Der Sommer kam nicht allmählich, sondern alles schien mit einem Mal zu explodieren.
Nach einem langen Tag in Petrograd aß Pekkala zu Abend und ging dann häufig auf dem Gelände spazieren. Selten begegnete ihm jemand zu dieser Abendstunde, jetzt aber bemerkte er einen Reiter, der auf ihn zukam. Das Pferd näherte sich im gemächlichen Passgang, der Reiter hielt die Zügel locker und saß nachlässig im Sattel. An der Silhouette erkannte Pekkala sofort, dass es sich um den Zaren handelte. Die schmalen Schultern, die Haltung des Kopfes, als wäre er starr mit dem Hals verbunden.
Schließlich kam der Zar neben ihm zum Halt. »Was führt Sie hier raus, Pekkala?«
»Ich mache oft einen Abendspaziergang.«
»Ich könnte Ihnen ein Pferd geben, das wissen Sie«, sagte der Zar.
Beide Männer schmunzelten, denn beide erinnerten sich, dass es ein Pferd gewesen war, das sie zusammengeführt hatte. Während der Ausbildung im Finnischen Garderegiment war Pekkala gezwungen
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