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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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wenn wir uns einfach aus dem Staub machen?«
    Pekkala antwortete nichts darauf. In seinem Kopf drehte sich alles.
    Schlürfend fuhr Kropotkin fort: »Pekkala, in Wahrheit habe ich gehofft, dass wir eine Möglichkeit finden, wieder zusammenzuarbeiten, so wie damals in Swerdlowsk.«
    Pekkala brauchte eine Weile, bis er kapierte, dass Kropotkin um eine Stelle nachfragte. Das ganze Gerede über das Verschwinden war nichts weiter gewesen als – eben – Gerede. Er machte Kropotkin keinen Vorwurf, aber sich selbst, weil er ihm geglaubt hatte. Und vielleicht hatte Kropotkin es zu diesem Zeitpunkt sogar selbst geglaubt, vielleicht hätte er es wirklich in die Tat umgesetzt, aber das war damals gewesen, und jetzt war er anderer Meinung. Die langen Tage, an denen er kreuz und quer durchs Land fuhr, waren wohl nicht spurlos an ihm vorübergegangen, dachte Pekkala. Kropotkin schien sich an seine Zeit bei der Polizei zu erinnern und sich zu wünschen, alles wäre wieder wie früher. Aber die Welt in seiner Erinnerung gab es nicht mehr. Vielleicht hatte es sie sogar nie gegeben. Außerdem würde der Grund für seine Dienstentlassung verhindern, dass er jemals wieder eingestellt würde, egal, wie sehr er, Pekkala, sich für ihn bei den betreffenden Stellen einsetzte. »Es geht nicht«, sagte Pekkala. »Tut mir leid, Kropotkin. Aber das ist unmöglich.«
    Als Kropotkin das hörte, erlosch das Licht in seinen Augen. »Schade.« Er sah sich um. »Ich bin gleich wieder da. Ich muss auf der anderen Seite der Stadt Ladung aufnehmen und nachfragen, ob sie schon abholbereit ist.«
    »Natürlich«, sagte Pekkala. »Ich bleibe noch so lange hier.«
    Während er auf Kropotkin wartete, war Pekkala, als erwachte er aus einem Traum. Plötzlich fühlte er sich beschämt, zutiefst beschämt, dass er auch nur in Betracht gezogen hatte, seinen Posten zu verlassen und Kirow den unvermeidlichen Folgen auszusetzen. Er dachte an Ilja, und während er wieder ihr Gesicht vor sich sah, erlebte er eine seltsame Halluzination.

E r stand auf dem Bahnsteig des kaiserlichen Bahnhofs von Zarskoje Selo. Ilja war neben ihm. Das winterliche Sonnenlicht auf den Ziegelmauern schimmerte wie die samtige Haut von Aprikosen. Es war ihr Geburtstag. Sie fuhren nach Petrograd zum Essen. Er drehte sich zu ihr, wollte ihr etwas sagen, als sie plötzlich verschwand.
    Als Nächstes fand er sich vor einem Eisentor zum Alexanderpalast wieder. Ein Bronzekranz war am Gitter angebracht. Er kannte den Ort gut. Hier traf er sich oft mit Ilja, wenn sie mit dem Unterricht fertig war. Zusammen spazierten sie dann durch die Parkanlagen. Im Folgejahr würden die Zarin und ihre Töchter an diesem Tor stehen und die Palastwachen anflehen, treu zu ihnen zu stehen, während die Revolutionsgarden bereits im Anmarsch waren. Aber das sollte erst noch kommen. Jetzt sah Pekkala, wie Ilja über den bleichen Teppich aus knirschendem Kies auf ihn zuging, unter dem Arm ihre Lehrbücher. Pekkala wollte das Tor öffnen, und diesmal war er es, der verschwand.
    Jetzt stand er am Kai in Petrograd und beobachtete die Yacht des Zaren, die Standard , beim Anlegemanöver. Matrosen warfen Festmacherleinen ans Ufer. Dutzende Signalflaggen waren aufgezogen und gaben ein so farbenfrohes Bild ab, als wäre die Wäsche der Hofnarren zum Trocknen aufgehängt worden. Ilja war ebenfalls wieder hier, ein leichter Wind bauschte ihr weißes Sommerkleid an den Knien. Er trug seinen üblichen schweren schwarzen Mantel, unter dem Vorwand, ihm seien Gerüchte von einer nahenden Kaltfront zu Ohren gekommen. In Wahrheit trug er ihn, weil er sich sogar bei solchem Wetter in nichts anderem wohlfühlte. Sie waren zum Essen an Bord geladen, das erste Mal, dass sie von den Romanows als Paar einbestellt worden waren. Ilja war sehr glücklich. Pekkala war nervös. Er machte sich nichts aus Festessen, schon gar nicht in den beengten Räumlichkeiten einer Yacht, auch wenn es eine kaiserliche Yacht war. Sie wusste, was ihm durch den Kopf ging. Er spürte ihre Hand, die ihm über den Rücken strich.
    »Ich will nicht weg«, sagte er ihr, aber in dem Moment, in dem er die Worte aussprach, schlug er die Augen auf und befand sich wieder im Café.

P ekkala wusste nicht, wie ihm geschah.
    Ihm war, als wären alle Erinnerungen an Ilja wie Konfetti in die Luft geworfen worden und rieselten nun um ihn herum nieder. So oft hatte er sich in diese Bilder geflüchtet, die ihm so lebendig vorkamen, dass sie die Welt um ihn mühelos auslöschten.

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