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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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worden, mit dem Pferd über ein Hindernis zu springen, auf dem der Ausbilder, ein Feldwebel, Stacheldraht angebracht hatte. Es hatte nicht lange gedauert, und alle Tiere bluteten aus den Schnitten an Beinen und Bauch. Der Sägemehlboden war übersät mit rubinroten Blutspritzern. Pekkala verweigerte den Sprung, und der Feldwebel drohte ihm zunächst, daraufhin demütigte er ihn, bevor er schließlich an seine Vernunft appellierte. Pekkala war sich durchaus bewusst, dass die Weigerung zu seiner sofortigen Entlassung führen würde. Man würde ihn in den nächsten Zug nach Finnland setzen. In diesem Augenblick aber bemerkten der Feldwebel und die Kadetten, dass sie beobachtet wurden. Im Schatten stand der Zar.
    Später, als Pekkala sein Pferd in den Stall brachte, wartete der Monarch auf ihn. Eine Stunde später war er vom Finnischen Garderegiment zu einer Sonderausbildung versetzt, die er bei der kaiserlichen Polizei, der Staatspolizei und der Ochrana absolvierte. Zwei Jahre und zwei Monate, nachdem er sein Pferd aus der Reithalle geführt hatte, heftete er sich das Smaragdauge ans Revers. Und seitdem hatte er es, wenn möglich, immer vorgezogen, sich auf den eigenen Beinen fortzubewegen.
    An jenem Frühlingsabend nun zog der Zar eine Zinnflasche aus seiner Uniformtasche, schraubte den Verschluss auf, nahm einen Schluck und reichte die Flasche Pekkala.
    Es war das erste Mal, dass er Sliwowitz probierte. Pekkala kannte das Getränk nicht. Der Nachgeschmack erinnerte ihn an einen Likör, den seine Mutter aus Moltebeeren herstellte, die sie im Wald sammelte. Moltebeeren waren nicht einfach zu finden, da sie von Jahr zu Jahr an unterschiedlichen Plätzen austrieben. Viele Einheimische machten sich daher gar nicht die Mühe, sie zu suchen, Pekkalas Mutter allerdings schien nur einen Blick ins Unterholz werfen zu müssen, und schon wusste sie, wo Moltebeeren wuchsen. Woher sie das wusste, war Pekkala ebenso sehr ein Rätsel wie die Entscheidung des Zaren, aus ihm das Smaragdauge zu machen.
    »Morgen ist der Jahrestag meiner Krönung«, bemerkte der Zar.
    »Herzlichen Glückwunsch, Exzellenz«, erwiderte Pekkala. »Haben Sie vor, das Ereignis entsprechend zu begehen?«
    »Mir ist an dem Tag nicht zum Feiern zumute«, sagte der Zar.
    Pekkala musste nicht nach dem Grund fragen. Fünf Stunden lang hatten der Zar und die Zarin bei seiner Krönung im Mai 1896 auf ihren Thronen aus Gold und Elfenbein ausgeharrt, wobei auch die Namen seiner Herrschaftsgebiete verlesen wurden – Moskau, Petrograd, Kiew, Polen, Bulgarien, Finnland. Und nachdem er zum Herrn und Richter über Russland ernannt worden war, läuteten die Glocken in der Stadt, und Kanonenböller hallten wider.
    Kurz darauf versammelten sich auf dem Chodynka-Feld, einem Truppenübungsplatz am Moskauer Stadtrand, etwa eine halbe Million Menschen. Ihnen waren Essen, Bier und jeweils ein Erinnerungsbecher versprochen worden. Als sich das Gerücht verbreitete, das Freibier neige sich dem Ende zu, stürmte die Menge nach vorn, und in der darauf einsetzenden Panik wurden mehr als tausend, manche sagen, bis zu dreitausend Menschen zu Tode getrampelt.
    Noch Stunden danach waren in den Moskauer Straßen Karren mit den Leichen unterwegs. Die Kutscher versuchten, dem Krönungszug auszuweichen, in dem allgemeinen Durcheinander aber geschah es immer wieder, dass einige dieser Karren – die schlenkernden Arme und Beine der Toten ragten oftmals unter den Leinwandplanen hervor – in die kaiserliche Prozession gerieten.
    »An diesem Nachmittag«, erzählte der Zar, »habe ich vor der Krönungszeremonie auf die Menschen auf dem Chodynka-Feld getrunken. Das war das letzte Mal, dass ich Wodka angerührt habe.« Der Zar lächelte traurig und hob die Flasche. »Also, was halten Sie von meiner Alternative? Ich lasse ihn mir aus Belgrad schicken. Ich besitze dort einige Obstgärten.«
    »Er ist ganz gut, Exzellenz.«
    »Ganz gut«, wiederholte der Zar und nahm einen weiteren Schluck.
    »Sie konnten nichts dafür, Exzellenz«, sagte Pekkala. »Für das, was auf dem Feld geschehen ist.«
    Der Zar atmete scharf ein. »Nein? Ich bin mir dessen nie sicher.«
    »Manche Dinge passieren einfach.«
    »Ich weiß.«
    Aber Pekkala wusste, dass er log.
    »Das Problem ist doch«, fuhr der Zar fort, »dass ich entweder von Gott als Herrscher über dieses Land auserkoren wurde, in welchem Fall der Tag meiner Krönung belegt, dass wir den Willen des Allmächtigen leben, oder …« Er stockte. »… oder dem ist

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