Der Rote Tod
geschaffen war. Jemand musste etwas in ihn hineingepfropft haben.
Kleidung bestimmt nicht...
Ihre Kehle wurde rau. Plötzlich hämmerte etwas in ihrem Kopf. Angst hatte sie eigentlich in der letzten Zeit nicht gehabt, jetzt aber kehrte sie zurück, und eigentlich wollte sie weglaufen, aber das packte sie auch nicht.
Dafür trat sie so dicht wie möglich an den Schrank heran, drehte den Kopf nach rechts und warf einen Blick durch den Spalt in das Innere. Sie hoffte, dort etwas erkennen zu können.
Ja, da war etwas!
Ein heller Fleck, etwas höher als ihr Gesicht. Sie presste das Auge gegen den Spalt – und riss den Mund auf. Hanna sah jetzt einen Teil des Inhalts.
Sie schaute direkt in das starre Gesicht der toten Ulrike Dorn!
***
Dünne, elektrische Ströme schienen sichtbar geworden zu sein und umgaben sie wie ein Netz, durch das sie nicht schlüpfen konnte.
Zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden war sie mit dem Tod konfrontiert worden. Diesmal allerdings empfand sie den Anblick als wesentlich schlimmer, denn sie kannte die Tote.
Am Kanal war es ein Unbekannter gewesen. Hier aber sah sie Frau Dorn, die Polizistin.
Das Mädchen zog sich nicht zurück. Etwas hinderte sie daran. Sie musste einfach hinschauen. Es war schlimm, auf diese bleiche Haut zu schauen. Sie hatte das Gefühl, einen Schlag zu erleben, der einfach nicht aufhören wollte. In ihrem Kopf kreiselte es. Sie spürte die Stiche von allen Seiten. Das Herz schlug schnell, und trotzdem war sie starr und blieb es auch.
Der Tod gehört immer zum Leben, hatte ihre Mutter mal zu ihr gesagt. Das konnte sie unterstreichen, aber in so kurzer Zeit zwei Mal damit konfrontiert zu werden, das war zu viel für sie.
Sie sah nur eine Gesichtshälfte. Ein Auge ohne Blick schaute sie an. Es war so schrecklich leer. Hanna konnte sich kaum vorstellen, dass Frau Dorn tot war. Vor kurzem hatte sie noch gelebt.
Und nun dies...
Endlich war auch ihre Starre vorbei, und sie trat einen zittrigen Schritt nach hinten. Das Bild verschwand. Leider zog es sich nicht aus ihrer Erinnerung zurück, und dort würde es auch bleiben. Zwar später mal verblassen, doch nie völlig verschwinden.
Jemand hatte die Frau umgebracht. Nicht nur ein namenloser Mörder, sondern ihr Vater. Ja, ihr Vater war der brutale Killer, das war kein Theaterstück, auch kein Film, das entsprach der Realität, die sie mit brutalen Händen umklammert hielt.
Wie konnte er so etwas tun? Wie war es ihm überhaupt möglich, nach einer solchen Tat auf die Bühne zu gehen und den Part herunterzuspielen? Hanna begriff das nicht, obwohl sie ein intelligentes Mädchen war. Doch das hier hatte wohl wenig mit Intelligenz zu tun. Da musste man schon andere Denkweisen ansetzen, die ihr fehlten.
Hanna stand wieder in der Mitte des Raumes und sah sich selbst im Spiegel. Ein eigene Analyse schaffte sie nicht, aber sie konnte sehen, dass sie sich verändert hatte. Wenn sie sich selbst in der Spiegelfläche sah, war sie zu einer anderen Person geworden. So blass, so starr, so ängstlich und schmal.
Sie musste etwas tun, aber sie wusste nicht, wie sie es anfangen sollte und was alles richtig war. Einen Rat konnte ihr niemand geben, und deshalb stand sie wie verloren in der Garderobe und hörte dem eigenen Herzschlag zu.
Sie konnte nicht mal weinen, aber sie wollte auch nicht in diesem Raum bleiben.
Da ihr Vater sich immer allein schminkte, brauchte sie keine Sorge zu haben, dass die Maskenbildnerin den Raum betreten würde. Im Flur war es auch ruhig. Sicherheitshalber schaute Hanna noch mal hinein, ohne etwas zu sehen.
Sie verließ den Raum.
Wegrennen? Zum Wohnwagen laufen, der Mutter Bescheid geben und dann einfach fliehen, bevor ihr Vater sich sie noch als nächste Opfer aussuchte?
Das wäre eine Möglichkeit gewesen, aber dahin tendierte das Mädchen nicht. Sie wollte bleiben und ihren Vater stellen. Zumindest in der Pause, und sie wusste auch, wo sie ihn erwarten konnte. Hinter der Bühne gab es einen kleinen Raum, mehr eine Nische, in der immer ein Hocker stand. Zumeist war die Nische leer. Über deren Funktion wusste sie nichts. Jetzt kam sie ihr für das Vorhaben sehr gelegen.
Den Weg kannte sie.
Hanna bewegte sich wieder leise. Die Lippen hatten sie zusammengepresst. Sie atmete nur flach. Manchmal durchlief sie ein Schüttelfrost. Am liebsten hätte sie laut geschrien, was sie aber nicht konnte, und so riss sie sich mühsam zusammen.
Bevor sie das Ende des Flurs erreicht hatte, wo es auch zur
Weitere Kostenlose Bücher