Der rote Würfel
schrien sie.
»Wir müssen es aufhalten!« riefen andere.
»Wartet!« schaltete ich mich ein. »Denkt daran, wie viele es schon umgebracht hat. Wir können nicht so einfach hinterher.«
»Es hat meinen Bruder getötet!« brüllte ein Mann und zog ein Messer. »Ich werde es mit eigenen Händen umbringen.«
Der Mob folgte dem Mann. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mitzumarschieren. Während wir uns durch die dunklen Gassen schlängelten, stießen wir auf immer mehr Leichen. Einigen war der Kopf abgerissen worden. Was muß der Mob glauben? überlegte ich.
Als wir die Bäume am Stadtrand erreichten, machte ich mich aus der lärmenden Menge davon und suchte das Monster auf eigene Faust. Ich konnte es schon hören, wie es drei Kilometer vor mir mit wahnsinnigem Gelächter einem Tier den Kopf abriß. Es war schnell und stark, aber ein reiner Vampir, kein Zwitterwesen. Mit mir würde es sich jedenfalls nicht messen können.
Ich stieß auf das Wesen, gerade als es sich von Baum zu Baum schlich, um den Mob anzugreifen.
»Ralph«, flüsterte ich, als ich von hinten auf ihn zukam.
Er wirbelte herum. Sein Gesicht war blutverschmiert, und in den Augen flackerte ein wildes Licht. Vielleicht sollte ich lieber sagen: überhaupt kein Licht. Seine Augen waren die einer Schlange. Eine Schlange auf der Pirsch, auf der Jagd nach den Eiern anderer Reptilien. Doch er erkannte mich und zeigte eine leise Zuneigung. Andernfalls hätte ich ihn auf der Stelle getötet. Ich machte mir keine Illusionen, daß er wieder in das zurückverwandelt werden könnte, was er einmal gewesen war. Das sagte mir meine Intuition. Manche Dinge weiß ich eben. Gewöhnlich die bittersten.
»Sita«, zischte er. »Bist du hungrig? Ich bin hungrig.«
Ich trat näher an ihn heran. Ich wollte nicht, daß der herannahende Mob auf uns aufmerksam wurde. Ralph hatte ein Blutspur hinter sich gelassen. Es tropfte nur so von ihm herab; in solchen Mengen, daß selbst mir dabei schlecht wurde. Mir brach es das Herz, als ich ihm gegenüberstand.
»Ralph«, sagte ich leise und wußte doch, daß alles Reden vergeblich sein würde. »Ich muß dich zurück zu Arturo bringen. Du brauchst Hilfe.«
Nackte Panik entstellte seine blutüberströmten Züge. Die Transformation schien bei ihm nicht gerade angenehm verlaufen zu sein. «Ich gehe nicht dorthin zurück«, rief er. »Er hat mich hungrig gemacht!« Ralph hielt inne und starrte auf seine klebrigen Hände. Etwas Menschliches war noch immer in ihm. Das Leid schnürte ihm die Kehle zu. »Er hat mich dazu gebracht.«
»Oh, Ralph.« Ich nahm ihn in die Arme. »Es tut mir so leid. So etwas hätte niemals geschehen dürfen.«
»Sita«, flüsterte er nur und schmiegte sich an mich. Ich konnte ihn einfach nicht töten. Nicht um alles in der Welt. Doch kaum, daß ich mir dieses Versprechen abgab, bog ich mich vor Schmerzen und konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken. Er hatte mich gebissen! Im Nu war sein Leid verschwunden. Von Entsetzen gepackt sah ich zu, wie er mit einem wahnwitzigen Grinsen ein Stück aus meinem Arm herunterschluckte. »Ich mag dich, Sita«, sagte er. »Du schmeckst gut!«
»Willst du noch mehr?« fragte ich und bot ihm mit Tränen in den Augen auch den anderen Arm an. »Du kannst alles haben, was du willst. Komm, Ralph. Ich mag dich auch.«
»Sita«, sagte er gierig, während er meinen Arm näher zu sich zog und sich daran machte, noch einmal zuzubeißen. In diesem Moment schleuderte ich ihn herum und packte ihm von hinten an den Schädel. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, und schnell genug, bevor mich das Leid überwältigte, zog ich ihm den Kopf zurück und drehte ihn zur Seite. Ich brach ihm das Genick. Sein kleiner Körper erschlaffte in meinen Armen – Schmerz hatte er gewiß keinen mehr verspürt.
»Mein Ralph«, flüsterte ich und strich über seine schönen, glatten Haare.
Ich hätte mit seiner Leiche sofort von dort verschwinden und sie irgendwo in den Bergen vergraben müssen. Aber diese Hinrichtung war selbst für ein Monster wie mich einfach zu viel.
Alles Leben wich aus mir, und ich war drauf und dran, in Ohnmacht zu fallen. Als der Mob auf mich stieß, drückte ich den toten Ralph an mich und weinte wie eine ganz normale Sterbliche. Meine Tochter von früher, mein kleines Söhnchen – Gott hatte sie mir beide geraubt.
Der Mob kreiste mich ein.
Sie wollten wissen, wie ich das Dämonenkind hatte aufhalten können.
Einige aus der Menge kannten mich.
»Du kümmerst dich doch um diesen
Weitere Kostenlose Bücher