Der rote Würfel
kann ich auch erkennen, wie mir das Blut durch die Adern fließt, wie die winzigen Kapillargefäße leuchten wie ein komplexes Gespinst aus Faseroptik. Ein kühler Hauch von Energie überkommt mich, mein Herz fühlt sich jedoch seltsam warm an.
Warm sogar noch, als es bricht.
Das weiße Leuchten breitet sich um mich herum aus.
Ich begreife, daß ich einfach abheben und davonfliegen kann.
Yakshas Blut, vielleicht ja auch die Gnade Krishnas, geben mir noch eine Chance.
Will ich sie aber überhaupt? Ich spüre, wie ich die Erde verlasse. Ich nähere mich Joel, will ihn umarmen, ihn mit mir nehmen.
Doch mein Arm geht durch ihn hindurch!
»Joel!« rufe ich. »Kannst du mich hören?«
Er kneift die Augen zusammen. »Ja, aber ich kann dich gar nicht mehr klar sehen. Was geschieht denn hier? Ist das wieder eine übernatürliche Fähigkeit von Vampiren?«
Leuchtend schwebt mein Körper nun dicht über dem Boden.
»Es ist ein Geschenk«, erwidere ich. Trotz meines ungewöhnlichen physischen Zustands stehen Tränen in meinen Augen. Weiße Diamanten, die in rotem Glanz funkeln, als sie über meine durchsichtigen Wangen gleiten. Wieder einmal muß ich mich von denen verabschieden, die ich liebe. »Es ist ein Fluch, Joel.«
Er lächelt. »Flieg fort, Sita, weit weg. Deine Zeit ist noch nicht vorüber.«
»Ich liebe dich«, sage ich.
»Ich liebe dich auch. Die Gnade Gottes ist noch immer bei dir.«
Der Boden befindet sich jetzt schon etwa einen halben Meter unter mir. Arturo will mich festhalten, doch es gelingt ihm nicht. Er weicht zurück und schüttelt resigniert den Kopf.
»Wahrscheinlich hast du recht«, meint er. »Die Menschheit ist noch nicht bereit dafür.« Dann fügt er noch hinzu: »Alles, was du brauchst, ist bei mir im Keller. Du hast die Wahl.«
Ich verstehe nicht, worauf er anspielt. Doch ich schenke ihm ein letztes Lächeln und fliege ein Stück höher.
»Ti amo«, hauche ich ihm zu.
»Ti amo anch’io, Sita.«
Ein Windzug erfaßt mich. Plötzlich steige ich hoch in die Luft. Um mich herum scheinen die Sterne. Wie eine fremde Sonne aus dem Zentrum einer entfernten Galaxie brennt der Mond auf mich herab. Er ist so unglaublich hell! Meine nun unsichtbaren Augen können den Glanz kaum ertragen, und ich bin gezwungen, sie zu schließen. Gerade in diesem Augenblick entzündet sich unter mir ein noch grelleres Licht. Seine glühenden Strahlen steigen empor und durchdringen meinen ätherischen Körper. Gewaltige Hitze entsteht, gewaltiges Getöse. Eine Schockwelle prallt auf mich, so dick wie ein Granitgestein. Doch ich spüre keinerlei Schmerzen; ich werde einfach fortgeschwemmt, auf den Strömungen der Zerstörung und den Flutwellen des Todes. Das Gelände existiert nicht mehr, das gestohlene Blut hat sich buchstäblich in Rauch aufgelöst. Die Welt ist wieder sicher. Doch ich, Sita, bin erneut verloren in der Tiefe der Nacht.
EPILOG
Zu meiner großen Überraschung hat die Wohnung von Arturo in Las Vegas tatsächlich einen Keller. Am Tag nach der Atomexplosion spähe ich durch die sorgsam verborgene Falltüre und entdecke unten Kupferplatten, magnetische Kreuze in merkwürdiger Anordnung und – am bedeutendsten von allem – ein leeres Kristallfläschchen, das darauf wartet, mit Blut gefüllt zu werden. Über dem Fläschchen hängt ein Spiegel. Er kann entweder die Sonne oder den Mond reflektieren, je nachdem, wieviel man aufs Spiel setzen will.
Ich rufe Seymour Dorsten an und gehe mit ihm durch, was in Frage kommt. Warten! rät er mir. Er macht sich schon auf den Weg zu mir.
Ich setze mich hin und warte. Nur langsam vergeht die Zeit.
»Alles, was du brauchst, ist im Keller.«
Will ich denn immer noch eine Tochter? Oder will ich weiterhin unsterblich
bleiben?
Schwierige Fragen. Eine Antwort darauf habe ich nicht.
Seymour kommt. Er weiß, wie er sich an meiner Stelle entscheiden würde. Mensch zu sein ist nicht das Allergrößte, erklärt er mir.
Vampir zu sein macht müde, kontere ich.
Mir ist klar, daß ich die Transformation versuchen werde.
Aber dafür brauche ich etwas von seinem Blut.
Mach mich erst zum Vampir, bittet er.
Das klappt nicht, erinnere ich ihn.
Doch, protestiert er.
Die Antwort bleibt: Nein.
Ich nehme ihm Blut ab, mache das Fläschchen randvoll und sage ihm, er solle
sich aus dem Staub machen.
Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht, lege ich mich auf die
Kupferplatte.
Die Magneten entziehen mir die Aura. Die Magie beginnt.
Als ich aufwache, fühle ich mich schwach und habe keinerlei
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