Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
umfangreich,
und die Seiten waren eng beschrieben. Es war schlecht in grauer
Pappe gebunden, aber die Broschur war lose und ein ganzer Teil fiel
ihr entgege n. Sie legte ihn sorgfältig wieder zurück und fing an zu
lesen.
Auf der ersten Seite stand folgender Eintrag:
Bericht über die Ereignisse in Lucknow und Agrapur 1856 -- 7, mit
einer Aufzeichnung über das Verschwinden des Rubins von Agrapur
und die Rolle, die das Kind namens Sally Lockhart dabei spielte.
Sie hielt inne und las es noch einmal. Sie selbst war gemeint! Und
ein Rubin -- Hunderte von Fragen erhoben sich plötzlich wie Fliegen,
die bei einem Festschmaus gestört werden, und verwirrten ihre
Gedanken. Sie schloß die Augen, um sich etwas zu beruhigen, dann
öffnete sie sie wieder und las weiter.
Im Jahr 1856 diente ich, George Arthur Marchbanks, beim 32.
Infanterieregiment des Herzogs von Cornwall in Agrapur in Oudh.
Einige Monate vor dem Ausbruch der Meuterei hatte ich Gelegenheit,
in Gesellschaft von drei meiner Offizierskameraden, nämlich Oberst
Brandon, Major Park und Hauptmann Lockhart, den Maharadschah
von Agrapur zu besuchen.
Der Besuch war angeblich rein privater Natur. In Wirklichkeit
jedoch war unser Hauptanliegen, gewisse geheime politische
Diskussionen mit dem Maharadschah zu führen. Der Inhalt dieser
Diskussionen ist für diesen Bericht nicht von Bedeutung, außer in
soweit, daß sie Verdächtigungen nährten, die eine bestimmte Gruppe
seiner Untertanen gegen ihn hegten -- Verdächtigungen, die ihm
während der furchtbaren Ereignisse des folgenden Jahres zum
Schicksal wurden, wie ich zeigen werde.
Am zweiten Abend unseres Besuches in Agrapur gab der
Maharadschah ein Bankett uns zu Ehren. Es mag dahingestellt sein,
ob es nun seine Absicht war, uns mit seinem Reichtum zu imponieren
oder nicht: auf jeden Fall war dies der Effekt, denn ich hatte nie zuvor
so eine verschwenderische Prachtentfaltung gesehen wie an diesem
Abend.
Der Bankettraum war mit Marmorsäulen ausgestattet, die
ausgesucht fein gemeißelt waren und an ihren Kapitellen
Darstellungen der Lotusblume hatten, die verschwenderisch mit
Blattgold bedeckt waren. Der Fußboden, über den wir gingen, war mit
Lapislazuli und Onyx belegt; aus einem Brunnen in der Ecke
plätscherte nach Rosen duftendes Wasser, und die Hofmusikanten des
Maharadschahs spielten ihre fremdartigen, schleppenden Melodien
hinter einem Wandschirm aus eingelegtem Mahagoni. Das Geschirr
war aus purem Gold, aber das Prunkstück der Schaustellung war der
Rubin von unvergleichlicher Größe und Glanz, der an der Brust des
Maharadschahs funkelte.
    Es war der berühmte Rubin von Agrapur, über den ich schon sehr
viel gehört hatte. Ich mußte ihn ganz einfach anstarren -- ich bekenne,
daß etwas in seiner Tiefe und Schönheit, in dem blutroten, flüssigen
Feuer, das in ihm zu lodern schien, mich faszinierte und meine
Aufmerksamkeit erregte, so daß ich intensiver hinstarrte als eigentlich
höflich zu nennen war. Auf jeden Fall bemerkte der Maharadschah
meine Neugier und erzählte uns die Geschichte des Steines.
    Er war vor sechs Jahrhunderten in Burma entdeckt und an Balban,
den König von Delhi, als Tribut gezahlt worden; dieser hatte ihn an
das Prinzengeschlecht in Agrapur vererbt. Durch die Jahrhunderte
war er unzählige Male verloren, gestohlen, verkauft oder als Lösegeld
verwendet worden, war aber immer wieder zu seinen königlichen
Besitzern zurückgekehrt. Er war die Ursache von Todesfällen, die zu
zahlreich sind, um sie alle aufzuzählen
-- Morde, Selbstmorde,
Hinrichtungen, und einmal löste er einen Krieg aus, in dem die
Bevölkerung einer ganzen Provinz zu den Waffen griff. Weniger als
fünfzig Jahre zuvor war er von einem französischen Abenteurer
gestohlen worden. Der arme Kerl glaubte, dem Entdecktwerden zu
entgehen, indem er den Stein schluckte, aber vergeblich: er wurde
noch lebend aufgeschlitzt und der Rubin noch warm aus seinem Bauch
gerissen.
Der Blick des Maharadschahs traf den meinigen, als er diese
Geschichten erzählte.
    „Würden Sie ihn gern näher betrachten, Herr Major?" fragte er.
„Halten Sie ihn nahe ans Licht und schauen Sie hinein. Aber passen
Sie auf, daß Sie nicht stürzen!"
    Er übergab ihn mir, und ich tat wie geheißen. Als das Licht der
Lampe auf den Stein fiel, trat ein seltsames Phänomen ein: die rote
Glut im Innern schien sich wie Rauch zu kräuseln und hochzusteigen,
um eine Reihe von Kanten und Klüften zu enthüllen
--

Weitere Kostenlose Bücher