Der Rubin im Rauch
ihrer Herrin und ihrem Land. Also öffnete sie gegen
Mitternacht die Küchentür, und Mr. Hopkins, gestärkt durch
reichlichen Brandygenuß, ging nach oben zu Sallys Zimmertür. Er
hatte so seine Erfahrungen bei diesen Spielchen, obwohl er das
saubere, männliche Gewerbe des Taschendiebstahls vorzog. Er
bewegte sich völlig geräuschlos, signalisierte dem Mädchen, daß sie
zu Bett gehen und ihm diese Aufgabe überlassen könne. Dann setzte
er sich auf den Treppenabsatz, bis er sicher sein konnte, daß Sally
eingeschlafen war. Ein silberner Flachmann vertrieb ihm die
Wartezeit. Schließlich hielt er die Zeit für gekommen, zur Tat zu
schreiten.
Er drehte am Türgriff und öffnete die Tür nicht weiter als etwa
vierzig Zentimeter. Ellen hatte gesagt, sie würde knarren, wenn man
sie weiter aufmachte. Durch die dünnen Vorhänge drang genügend
Licht von einer Gaslampe auf dem Platz draußen, so daß er recht gut
sehen konnte. Zwei Minuten lang stand er ganz still, um sich zu
orientieren; es gab nichts Schlimmeres als eine lose Teppichecke oder
ein hastig hingeworfenes Kleidungsstück.
Das einzige Geräusch im Raum war Sallys ruhiges Atmen.
Gelegentlich ertönte das Rädergerassel einer Kutsche, die noch so spät
unterwegs war, aber sonst war kein Laut zu hören. Dann setzte er sich
in Bewegung. Er wußte, wo sie ihre Papiere aufbewahrte, Ellen hatte
ihn ausführlich informiert. Hopkins leerte Sallys Tasche auf den
Teppich und bemerkte, daß sie schwerer war, als er erwartet hatte.
Und dann fand er die Pistole.
Einen Augenblick lang starrte er darauf und dachte, er sei ins
falsche Zimmer gekommen. Aber da war Sally, die nur etwa einen
Meter von ihm entfernt schlief... Er hob die Waffe auf und wog sie in
der Hand.
„Du kleiner Teufelsbraten", sagte er leise. „Hab ich dich also."
Er steckte sie in die Tasche, zusammen mit allen Papierfetzen, die
herumlagen. Dann stand er da und blickte sich um. Sollte er alle
Schubladen durchsuchen? Aber sie waren vielleicht voller Papier, und
was würde er dann tun? Es war schon saublöd, von einem Mann zu
verlangen, er solle irgend so 'n dämlichen Fetzen Papier stehlen. Aber
die Pistole, die lohnte sich. Aber deswegen brachte er Sally noch
lange nicht um. Er schaute sie an: Hübsches Mädchen, dachte er, ein
Kind noch. Wäre ein Jammer, wenn Mrs. Holland sie in ihre Fänge
kriegen würde. Sollte sie ihre Unfälle nur selbst inszenieren, dies Spiel
spielte er nicht.
Er verschwand so leise wie er gekommen war; keine
Menschenseele hörte ihn. Aber er kam nicht weit.
Als er um eine dunkle Ecke im Straßendschungel hinter Holborn
bog, legte sich ein Arm um seinen Hals, ein Fuß trat ihm die Beine
unter ihm fort und ein hartes Knie wurde ihm ins Zwerchfell gerammt.
Es kam alles ganz plötzlich; das Messer, das ihm in die Rippen
gestoßen wurde, war kalt, sehr kalt, so daß sein Herz sofort aussetzte.
Sein einziger Gedanke war: ,Bloß nicht die Gosse -- mein neuer
Mantel -- der Dreck...' Der neue Mantel wurde aufgerissen; Hände
fuhren in seine Taschen. Eine Uhr mit Kette, ein silberner Flachmann,
ein goldenes Zwanzigschillingstück und ein paar Kupfermünzen, eine
Diamantnadel in der Krawatte, ein paar Papierfetzen, und was war
das? Eine Pistole? Leises Lachen ertönte und verhallende Schritte.
Und kurz darauf fing es an zu regnen. Schwächer werdender
stechender Schmerz durchzuckte immer noch Henry Hopkins' Gehirn,
aber nicht lange, und es umfing ihn wie ein Schleier die Nacht des
Vergessens, als das Blut aus der Wunde in seiner Brust rann und sein
Leben eins wurde mit dem schmutzigen Wasser in der Gosse und
schließlich in die Kanalisation und in Dunkelheit eintauchte.
„Ah", bemerkte Mrs. Rees beim Frühstück, „unser werter Gast
bequemt sich, zu uns herunterzukommen. Und ungewöhnlich früh
dazu noch, denn der Toast ist noch nicht gekommen. Meistens ist er
schon ziemlich kalt, wenn du erscheinst. Aber da ist Schinken -- willst
du Schinken? Und hättest du die Güte, ihn auf dem Teller zu lassen,
nicht so wie die Nieren gestern? Obwohl Schinken sich nicht so
schnell selbständig macht wie Nieren, wage ich zu behaupten, daß du
ihn vom Teller bringst, wenn -- "
„Tante Caroline, ich bin bestohlen worden", sagte Sally.
Die alte Frau sah sie völlig überrascht mit wildem Blick an. „Ich
verstehe nicht", sagte sie.
„Irgend jemand ist in mein Schlafzimmer gekommen und hat mich
bestohlen."
„Haben Sie das gehört, Ellen?" sagte
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