Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
zerstückelt und aufgefressen, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln. Sie hatte ihren Vater nie gekannt, und doch hatte sie immer das Gefühl gehabt, ihm durch die liebevollen Erinnerungen ihrer Mutter ganz nah zu sein. Wie gern hätte sie das alles überprüft und erfahren, was für ein Mensch Johannes von Sonthofen wirklich gewesen war. Doch wie so oft in ihrem Leben hatte ihr das Schicksal einen grausamen Streich gespielt. Jellas Selbstbeherrschung begann zu bröckeln. Nur ein letzter Rest von
Haltung hielt sie davon ab, heulend davonzurennen. In die Trauer um den unbekannten Vater mischte sich nun auch die Angst vor der ungewissen Zukunft. In was für eine Sackgasse war sie nur wieder geraten? Mit einem Schlag waren alle ihre Träume von einer besseren Zukunft wie Seifenblasen zerplatzt. Wäre sie nur ein Fünkchen realistischer gewesen, so hätte sie sich niemals auf diese waghalsige Suche nach ihrem unbekannten Vater eingelassen. Nun war das geschehen, was sie sich immer geweigert hatte sich vorzustellen. Ihr Vater war tot, und sie war wieder einmal auf sich allein gestellt. Beinahe trotzig schob Jella ihr Kinn nach vorn. Gleichzeitig kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen.
»Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist«, meinte Lucie. Sie versuchte diesmal Jellas Hand zu tätscheln, doch die zog sie erneut mit einer heftigen Bewegung zurück.
»Danke, ich komme schon klar«, brach es schroffer als beabsichtigt aus ihr heraus. Sie war einfach zu aufgewühlt, um das gespielte Mitgefühl dieser fremden Frau zu ertragen. Und natürlich wusste sie überhaupt nicht, wie sie allein klarkommen sollte.
»Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Lucie von Sonthofen. Ihre Haltung suggerierte Mitgefühl, doch irgendetwas in ihrer Stimme ließ Jella das Gegenteil vermuten. Sie hatte das nicht unbegründete Gefühl, dass Lucie sie so schnell wie möglich loswerden wollte. Natürlich. Diese Lucie sah in ihr selbstverständlich eine Konkurrentin um das Erbe von Owitambe . Wie absurd und lächerlich. Jella wäre nicht im Traum darauf gekommen, irgendwelche Ansprüche auf die Farm geltend zu machen. Ihr Vater war ein Fremder für sie gewesen und hatte sein eigenes Leben mit dieser Lucie geführt. Trotzdem fand Jella, dass es ihr Recht war, sich wenigstens eine Zeit lang auf seiner Farm aufzuhalten. Sie brauchte einen Ruhepol, um wieder zu sich selbst zu finden. Vielleicht würde es ihr hier gelingen, ihr Leben neu zu sortieren und wenigstens ein bisschen zu verstehen, wie ihr Vater wohl gewesen sein mochte.
»Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich gern für ein paar Tage hier auf der Farm bleiben«, bat sie mit brüchiger Stimme. Lucies Mundwinkel verzogen sich für den Bruchteil einer Sekunde nach unten, was deutliches Missfallen zu Tage treten ließ. Doch dann besann sie sich doch eines anderen.
»Selbstverständlich, meine Liebe«, meinte sie mit aufgesetzt wirkender Herzlichkeit. »Ich werde Nancy gleich anweisen, Ihnen ein Zimmer herzurichten. Das bin ich Johannes, Ihrem Vater, wohl schuldig.« Sie machte eine kleine Pause, bevor sie ihren Satz zu Ende brachte. »Allerdings bezweifle ich sehr, dass er die Legitimität Ihrer Blutsverwandtschaft aufgrund dieser läppischen Briefe anerkannt hätte.« Sie schenkte Jella ein zuckersüßes Lächeln, das den Unterton ihrer Bemerkung allerdings nicht wegnahm. Jella wurde rot. Ihr lag eine rechtfertigende Erwiderung auf den Lippen, doch sie riss sich zusammen. Schließlich wollte sie ihre Gastgeberin nicht gleich am ersten Tag verprellen. Doch sie nahm sich vor, dieser Lucie in Zukunft keine Antwort schuldig zu bleiben, auch wenn sie die Frau ihres Vaters gewesen war.
Nancy war eine gemütliche, dunkelhäutige Hererofrau mit drallen Rundungen um Brust und Hüften. Sie machte sich sogleich daran, für Jella ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses herzurichten. Als sie Jella zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hatte sie vor Überraschung die Hände vor dem Mund zusammengeschlagen.
»Himmel, der tote Herr ist in Form einer Frau zurückgekehrt!«, hatte sie erschrocken gerufen. Lucie gefiel diese Bemerkung überhaupt nicht.
»Red keinen Quatsch, und mach dich an deine Arbeit, Nancy«, befahl sie ungehalten. Nancy wollte noch etwas erwidern, besann sich dann aber und senkte demütig den Kopf. »Entschuldigung, gnädige Frau«, murmelte sie und verschwand eilig aus dem Zimmer. Jella fiel erneut die demütige Haltung des Dienstpersonals
auf. War ihr Vater so ein Despot gewesen? Erst
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