Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
die Frau im Hof, die vor ihr geflüchtet war, und jetzt Nancy, die offensichtlich für das Haus zuständig war - beide wirkten total eingeschüchtert. Nach allem, was Rachel ihr erzählt hatte, war das unmöglich, aber die Realität schien offensichtlich eine andere Sprache zu sprechen. Unter dem Vorwand, dass sie sich nicht wohl fühle, zog sich Jella so schnell es ging in ihr Zimmer zurück.
Dort legte sie sich auf ihr einfaches, aber sauberes Bett, über das ein Moskitonetz gespannt war, und starrte an die Decke. Tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf und ließen sie keine Ruhe finden. Warum war das Leben so ungerecht zu ihr? Hatte sie nicht alles versucht, um das Beste daraus zu machen? Ärgerlich schob Jella die negativen Gedanken beiseite. Sie wusste genau, dass ihr Grübeln ihr nicht aus der Patsche helfen würde. Sie beschloss, die Zeit auf Owitambe als eine Reise in die Vergangenheit zu nutzen, um wenigstens ansatzweise herauszufinden, wer ihr Vater gewesen war.
Das Abendessen fand draußen auf der Veranda statt. Lucie empfing Jella in einem luftigen, hellen Sommerkleid, das mit aufwändigen Stickereien verziert war. Ihr hellblondes Haar war sorgfältig zu einer Turmfrisur hochgesteckt, aber ihr Gesicht war wieder eine Spur zu dick gepudert. Auf Jella machte sie alles andere als den Eindruck einer tief Trauernden. Lucie drückte ihr ein Glas Weißwein in die Hand und toastete ihr zu.
»Das ist hier in Afrika Brauch«, meinte sie leicht herablassend. »Soweit es die Arbeit zulässt, toastet man gemeinsam dem Sonnenuntergang zu. Wir in England nennen es Sundowner.« Sie deutete den Abhang hinab auf die Westseite des Waterbergs, auf dessen tafelähnliches Plateau sich der rotgoldene Sonnenball gerade sanft legte. Jella hielt den Atem an. Sie war beeindruckt von diesem herrlichen Naturschauspiel. Die am Tag so gleißend helle Buschlandschaft
bekam plötzlich Konturen und nahm Farbe an. Ein weit ausladender Kameldornbaum setzte sich blaugrün vor dem rotglühenden Felsgestein des Waterbergs ab. Das Blau des Himmels verwandelte sich in ein leuchtendes Rose, das auf dem dunkleren Blau der hereinbrechenden Nacht ruhte, die sich vom Horizont her über das Land ausbreitete. Unterhalb der Farm hatte Jellas Vater eine Tränke angelegt, zu der in den Abendstunden gern die Wildtiere kamen. Eine kleine Gruppe Paviane tollte um das Wasser herum. Während die Alttiere das Wasser bedächtig aus der Hand in ihr Maul gossen und dabei genüsslich schlürften, tobten die Kleinen ausgelassen um das Wasserloch herum. Dabei sprangen sie in tollkühnen Sätzen über die runden Felssteine, lauerten sich gegenseitig auf, um dann ausgelassen miteinander zu balgen. Plötzlich stieß der Anführer der Paviane einen lauten Warnruf aus, und die kleine Horde zog sich auf Kommando in den Busch zurück. Ein mächtiger Oryxantilopenbock näherte sich dem Wasserloch und hielt witternd seine Nüstern in die Luft. Die fast zwei Meter langen, spießartigen Hörner ragten ehrfurchtgebietend in die Luft. Misstrauisch sah sich das herrliche Tier um. Jella schätzte, dass es locker um die fünf Zentner wog. Der Bock war wunderschön gezeichnet. Sein mattgrauer Körper nahm im Abendlicht einen rötlichen Schimmer an. Ein schwarzes Band trennte den Rücken von dem weißen Bauch. Ein weiteres schwarzes Band verlief in der Mitte des Rückens und endete in einem schwarzen Schwanz. Der Kopf war ebenfalls schwarz, aber er trug eine weiße Maske und eine weiße Nase. Jella hatte noch nie in ihrem Leben ein schöneres Tier gesehen. Seine Hörner waren zweifelsohne eine furchtbare Waffe, weshalb sich das Tier auch ohne Scheu dem Wasser näherte. Um zu trinken, knickte die Oryxantilope in den Knien ein. In langen, ausgiebigen Bewegungen schlappte ihre Zunge über das Wasser und schaufelte begierig das erfrischende Nass in ihr Maul. Kein anderes Tier suchte in diesem Moment ihre Nähe. Erst als
die Antilope sich gemächlichen Schrittes zurückzog, wagten sich kleinere Springböcke und ein einzelnes Zebra an die Wasserstelle.
»Wäre der Oryxbock nicht zu alt, hätte ich ihn schon längst abgeknallt.« Mit diesen Worten trat Victor Grünwald zu den beiden Frauen auf die Veranda. Lucie lachte und reichte statt einer Erwiderung dem Vorarbeiter ebenfalls ein Glas Weißwein. Dieser nahm es wie selbstverständlich und versenkte dabei seinen Blick unanständig lange in Lucies großzügigen Ausschnitt. Jella hob voller Missfallen eine Augenbraue hoch, während
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