Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
viel von deinem Vater«, sagte sie leise. »Wenn er etwas will, dann steht er genauso wie du.«
Erst jetzt wurde Jella ihre eigene, drohende Haltung bewusst und sie ließ sofort ihre Hände sinken.
»Also weißt du doch, wer ich bin?«
»Alle Leute auf der Farm wissen es - und alle wünschen, dass du bleibst. Die andere Madame muss gehen!«
Jella wunderte es nicht, dass Lucie nicht besonders beliebt war. Es war kein Geheimnis, dass ihr das Farmleben nicht sonderlich behagte, und ihr Umgang mit dem Dienstpersonal war alles andere als respektvoll. Oft hatte sie stark an sich halten müssen, um Lucie nicht darauf aufmerksam zu machen. Aber das alles war eindeutig nicht ihre Sache. Auf der anderen Seite fühlte sie sich durch die Worte der Himbafrau geehrt. Die ablehnende Haltung der Schwarzen rührte also nicht daher, dass sie einen arroganten Eindruck auf sie gemacht hatte, sondern auf einem Verbot seitens Lucie. Schmerzhaft wurde sich Jella bewusst, dass sie mehr an dem Land hing, als sie bisher hatte zugeben wollen.
»Danke«, meinte sie gerührt. »Leider ist das nicht möglich. Ich werde Owitambe bald verlassen. Hier ist kein Platz für mich.«
Sarah griff plötzlich nach Jellas Hand und drückte sie auf ihr Herz.
»Dein Vater hätte große Freude an dir. Leider ist er tot«, meinte
sie traurig. »Du solltest seine Rinder haben und sie für deine Familie vermehren. Madame Lucie ist keine gute Frau. Du musst bleiben.«
Jella schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, mein Vater hat diese Lucie geheiratet, also muss er sie auch geliebt haben. Ich habe kein Recht, mich in seine Entscheidungen einzumischen.«
Sie konnte sich ihre Offenheit der fremden Frau gegenüber selbst nicht erklären. Es war, als hätte jemand ein Fass geöffnet, das bis zum Bersten voll gewesen war. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
»Ich weiß ja nicht einmal, ob er mich jemals anerkannt hätte.« Das plötzliche Bewusstsein, dass sie das niemals herausfinden würde, schmerzte sie wie eine schwärende Wunde. Unwillkürlich traten ihr Tränen in die Augen, und zum ersten Mal, seit sie von Johannes’ Tod erfahren hatte, war sie fähig, ihre Trauer so zu äußern. Die Himbafrau hielt immer noch Jellas Hand auf ihrem Herzen. Sie drückte sie noch einmal.
»Dein Vater hat deine Mutter nie aus dem Herzen verloren«, sagte sie mit fester Stimme. »Er war guter Mann - auch für Mutter seines Sohnes.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie zu dem See, wo der Junge wieder badete. Sie rief ihm etwas auf Himba zu. Dann schob sie sich an Jella vorbei und verschwand hinter den tiefgrünen Büschen in Richtung Farm. Sie war längst verschwunden, als ihre letzten Worte bis in Jellas Bewusstsein vorgedrungen waren.
»Moment mal«, rief sie Sarah hinterher. »Willst du damit sagen, dass er Lucie mit dir betrogen hat?«
Jella war empört; gleichzeitig mischte sich aber noch eine ganz andere Erkenntnis in ihr Bewusstsein. Sarahs Sohn, seine helle Haut, der leichte Rotschimmer auf seinen Löckchen... Unwillkürlich griff sie nach dem Stamm eines in der Nähe befindlichen Baumes. Das alles musste sie erst einmal verdauen. Ihr war, als hätte
sie bis vor Kurzem in einen verzerrten Spiegel geschaut, in dem sich eine Wahrheit gezeigt hatte, die gar keine war. Sarahs Behauptungen hatten diesen Zerrspiegel zerschlagen. Jetzt war es an ihr, die Scherben wieder zu einem sinnvollen Ganzen zu ergänzen.
Wilde Träume quälten Jella in der folgenden Nacht. Sie trug schwer an den Neuigkeiten, die sie am vorigen Tag erfahren hatte. Nass geschwitzt wälzte sie sich auf ihren Bettlaken, schreckte immer wieder jäh aus einem Albtraum hoch, bevor sie sich bleischwer in einen neuen Traum fallen ließ. All die Geschehnisse der letzten Jahre rotierten darin in einem wilden Potpourri herum. Die Armut in der Andreasstraße, der Tod ihrer geliebten Mutter, die Vergewaltigung, der Großvater in seiner preußischen Strenge und Unerbittlichkeit, der großherzige Heinrich Zille mit seiner Familie, die Ausbildung am Robert-Koch-Institut, die Schiffspassage, Fritz van Houten in seiner verstörenden Art und die seltsamen Visionen, die sie seit der Begegnung mit der Hottentottenfrau - oder war es eine Buschmannfrau? - heimsuchten. Und jetzt noch Sarahs Behauptung, sie hätte einen Halbbruder. All das mischte sich zu einem wilden Konvolut, einer Traumsuppe, in der sich Realität, Wunschdenken und Ängste miteinander vermischten.
Völlig gerädert und zerschlagen erwachte
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