Der Ruf der Kiwis
Gräben ...«
»Im Niemandsland ist es viel gefährlicher«, gab Jack zu bedenken. »Es wird grauenvoll, Roly. Wie im Mai, nur dass diesmal wir übers freie Feld rennen und Schießscheiben spielen.«
»Aber wir haben doch die weißen Armbinden!«, meinte Roly, als machten die ihn unverwundbar. »Ich schaff das schon, Mr. Jack!«
Jack konnte ihm nur Glück wünschen. Am nächsten Tag kam er kaum dazu, an seinen Freund zu denken. Der Lärm aus der Gegend von Lone Pine war infernalisch. Wenn Jack das Periskop über den Grabenrand hob, konnte er die Soldaten fallen sehen. Die Türken schossen auf breiter Front aus allen Rohren. Jack und seine Leute erwiderten das Feuer erbittert, in der Hoffnung, den Feind zu zermürben.
»Wenn wir sie heute müde machen, haben wir morgen bessere Chancen«, behauptete Jack gegenüber seinen Männern. Die jüngeren unter ihnen nickten begeistert, während die älteren eher die Stirn runzelten.
»Die wechseln die Leute doch aus!«, meinte ein Lance Corporal.
Jack sagte dazu lieber nichts.
Der 7. August war ein weiterer, strahlender Hochsommertag an der türkischen Küste. Das Meer lag tiefblau und friedlich in der Sonne, das Gestrüpp an den Berghängen war ausgebleicht – und auf dem Niemandsland zwischen den Fronten trocknete das Blut. Während Jack lustlos sein Porridge löffelte und überlegte, ob er die wohlweislich bereits verteilte Alkoholration gleich vertilgen oder auf ein Überleben und Feiern nach dem Kampf hoffen sollte, kam Roly vorbei.
»Ich bring die Post!«, erklärte er und warf Jack einen Stapel Briefe für seine Leute zu. »Das soll die Stimmung heben, haben sie unten gesagt, wenn die Männer noch mal was von ihren Lieben hören. Meine Mary hat auch geschrieben!«
Jack sortierte die Post und fand einen Brief aus Kiward Station. Wieder nichts von Gloria.
»Wie war es gestern?«, fragte er leise.
Rolys Gesicht erblasste. »Schrecklich. So viele Tote ... und sie werfen Bomben und schießen mit Schrapnellgeschossen. Das zerreißt die Männer, Mr. Jack. Sie amputieren fast nur noch unten im Lazarett. Wenn überhaupt noch genug übrig ist, um irgendwas abzuschneiden. Und die Gräben bei den Türken sind zum Teil überdacht, da müssen Sie aufpassen, Mr. Jack. Man muss drüberspringen und von hinten in die Kommunikationsgräben ... Ich weiß ja, dass ich nicht sehr klug bin, Mr. Jack. Nur einfacher Private wieder, nicht mal Lance Corporal ... und die Männer, die das bestimmen, sind Generäle und so. Aber das können wir nicht schaffen, Mr. Jack. Nicht mit hunderttausend Mann!«
Jack nickte. »Wir werden unser Bestes tun, Roly!«, sagte er aufmunternd.
Roly schaute ihn an, als wäre sein Freund nicht recht bei Trost.
»Und wir sterben für nichts«, sagte er ruhig.
Liebster Jack ...
Jack öffnete Gwyneiras Brief, sobald Roly gegangen war. Vielleicht der letzte Brief. Es war ein sonderbares Gefühl, aber er überließ sich ganz dem Trost, die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf zu hören. Zumal Gwyneira lebhafter schrieb, als es sonst der Fall war. Sie war keine geschickte Schreiberin, aber diesmal hatten ihr heftige Gefühle die Feder geführt.
... Du schreibst, dass es ruhig ist, bei Euch an der Front, und ich kann nur beten, dass es so bleibt. Jedes Mal, wenn ich ein Schreiben von Dir erhalte, atme ich auf, obwohl ich doch weiß, dass die Briefe oft wochenlang unterwegs sind. Du musst am Leben bleiben, Jack, ich vermisse Dich so sehr. Zumal sich unsere Hoffnung, Gloria möge endlich heimkommen, wohl nicht so bald oder zumindest nicht so einfach erfüllen wird. Gestern erhielt ich einen Anruf von Kura-maro-tini. Ja, tatsächlich, sie griff persönlich zum Telefon und war überaus aufgebracht.
Wie es aussieht, ist Gloria in San Francisco aus ihrem Hotel verschwunden. Eine Entführung schließen sie aus, sie hat ihre Reisedokumente mitgenommen. Allerdings wurde keine Schiffspassage auf ihren Namen gebucht, es gibt also keinen Beweis dafür, dass sie Amerika verlassen hat. Dennoch scheint Kura anzunehmen, dass sie innerhalb der nächsten paar Tage bei uns ankommen wird. Wie sie sich das vorstellt, ist mir schleierhaft, aber sie macht mich praktisch persönlich für Glorias Flucht verantwortlich. So, als hätte ich ihr eine dieser modernen Flugmaschinen geschickt oder einen Zauber. Kura ist völlig außer sich, sie sprach in einem Atemzug davon, wie undankbar das Mädchen sei, andererseits schimpfte sie über Glorias Unfähigkeit, sich irgendwie
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