Der Ruf der Kiwis
stellte Florence ihn vor dem Personal nicht bloß; schließlich sollten die Leute dem Juniorchef Respekt entgegenbringen. Machte Ben Fehler bei der Arbeit, ahndete sie das unter vier Augen. In Sachen »Dichtung« kannte Florence jedoch keine Gnade – und half ihrem Sohn dabei in diesem Fall unfreiwillig weiter.
Denn nicht nur, dass die Büroangestellten ihn bedauerten, obwohl sie durchweg nichts von Reimen verstanden, zufällig war auch die junge Frau eines Büroboten anwesend, um ihrem Mann die Brote zu bringen, die er am Morgen vergessen hatte. Sie wartete im Vorraum, aber sie bekam Florence’ Ausbruch mit – und war im Gegensatz zu Bens Mutter zu Tränen gerührt über die Dichtkunst des Jungen. Als sie ging, hob sie den Brief auf, glättete ihn, steckte ihn wieder in den Umschlag und warf ihn in den nächsten Briefkasten – leider, ohne ihn zu frankieren. So fiel er Elaine in die Hände, als der Briefträger Nachporto forderte.
Elaine schwankte ernstlich zwischen der Solidarität zu ihrem Mann, der zu ihrer Tochter und dem Briefgeheimnis. Tim hätte das Schreiben zweifellos direkt vernichtet, aber Elaine konnte sich nicht dazu durchringen. Schließlich entschloss sie sich zu einem Kompromiss: Sie entschied, den Brief zuerst zu lesen und dann zu entscheiden, ob er harmlos war und Lilian ausgehändigt werden konnte.
Lilian war natürlich empört, als sie letztlich das offene, zerknitterte Kuvert in Empfang nahm.
»Schon mal von Privatsphäre gehört?«, fauchte sie ihre Mutter an. »Nicht mal im Internat haben sie unsere Briefe gelesen!«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, bemerkte Elaine. »Ich habe jedenfalls öfter welche bekommen, die vor dem Verschicken geöffnet worden waren.«
»Was?« Lilian war gleich bereit, sich nachträglich noch aufzuregen, aber dann widmete sie sich lieber dem kostbaren Schreiben ihres Ben.
»Du hast nichts rausgenommen?«, fragte sie argwöhnisch.
Elaine schüttelte den Kopf. »Ich schwöre!«, erwiderte sie lachend. »Und er war schon, als er hier ankam, nicht richtig verschlossen und zerdrückt. Im Übrigen sträuben sich meine Nackenhaare beim Lesen. Falls ihr daran denkt, eines Tages von Bens Dichtkunst zu leben, sehe ich schwarz ...«
»Die Gedichte sind ja auch nur für mich!«, meinte Lilian mit selbstvergessenem Strahlen. »Du kannst sie nicht verstehen ...«
»Und dann verschwand sie mit Bens zerfließenden Herzen für drei Stunden in ihrem Zimmer«, berichtete Elaine später lachend ihrem Mann. Tim kam mit Matt Gawain von einem Geschäftstreffen in Westport, Lilian hatte ihn an diesem Tag nicht begleitet.
Nun verzog er unwillig den Mund. Er war erschöpft nach der Fahrt über die weitgehend ungeteerten Straßen. Das Auto war nicht wesentlich besser gefedert als die Chaise, die er früher bevorzugt hatte.
»Lainie, das ist nicht komisch! Und wir waren doch übereingekommen, die Sache nicht zu unterstützen. Wie konntest du ihr den Brief geben?«
Elaine drückte Tim auf einen Sessel, half ihm, die Beine hochzulegen, und begann, ihm sanft die Schultern zu massieren. »Dies ist kein Gefängnis, Tim«, bemerkte sie. »Und es gibt so etwas wie das Recht auf die eigene Post. Streng genommen hätte ich den Brief nicht einmal öffnen dürfen, aber das erschien mir doch etwas zu liberal. Und du kennst meine Ansicht: Diese Liebelei ist völlig harmlos. Wenn wir eine Staatsaffäre daraus machen, wird es nur noch schlimmer.«
Tim schnaubte. »Ich werde demnächst jedenfalls besser auf sie aufpassen. Sie kann den Chauffeur für mich spielen, jetzt, da Roly weg ist. Dann ist sie beschäftigt, und gleichzeitig habe ich sie im Blick. Und dass du ihr bloß nicht erlaubst, ihrerseits an den Knaben zu schreiben! Ich hätte Florence sofort am Telefon, und dabei ist sie jetzt endlich wieder besänftigt, nachdem sie die Eisenbahner das Fürchten gelehrt hat ...«
Lilian erwiderte Bens Brief nicht postwendend; schließlich war ihr klar, dass ihre Antwort als Erstes auf dem Schreibtisch seiner Mutter landen würde. In der nächsten Zeit war sie zudem damit beschäftigt, Autofahren zu lernen, eine Kunst, die ihr riesigen Spaß machte. Insofern wehrte sie sich auch nicht gegen ihre neuen Pflichten als Tims »Chauffeuse«, und Elaine atmete auf, dass seine »genauere Überwachung« keine weiteren Auseinandersetzungen nach sich zog. Kurzzeitig hoffte sie sogar, Lilian könnte ihre »große Liebe« über all den neuen Eindrücken vergessen. Schließlich kam sie mit ihrem
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