Der Ruf der Kiwis
in ihrer Truppe nützlich zu machen. Es ist mir ein Rätsel, warum sie das Kind dann nicht einfach im Guten nach Hause schicken konnte. Auf jeden Fall ist Gloria verschollen, und ich mache mir größte Sorgen. Wenn ich nur Hoffnung hätte, dass Du bald zurückkommst.
Um die Farm brauchst Du Dir keine Gedanken zu machen, alles läuft gut unter Maakas Aufsicht. Die Preise für Wolle und Fleisch sind hoch, alles scheint vom Krieg zu profitieren. Aber ich denke an Dich und all die anderen, für die der Kampf nur Blut und Tod bedeutet.
Pass auf Dich auf, Jack. Ich brauche Dich.
Deine Mutter, Gwyneira McKenzie
Jack vergrub den Kopf in den Händen. Nun also auch noch Gloria. Er verlor, was immer er liebte ...
Jack war völlig furchtlos, als die ersten Pfeiftöne endlich ertönten und das Signal zum Gefecht gaben. Er sah und hörte, wie die ersten Angreifer aus den Gräben sprangen – um oft schon getroffen zu werden, wenn sie nur die Köpfe aus der Deckung hoben. Nur wenige rannten über das Niemandsland, keiner erreichte die gegnerischen Gräben.
Dann kam die zweite Angriffswelle.
Jack dachte nicht mehr, er stemmte sich aus dem Graben, und er rannte, rannte, rannte, hatte es fast geschafft ...
Irgendetwas stieß mit Wucht an seine Brust. Er wollte hingreifen und es wegwischen ... spürte Blut ... es war seltsam, es tat gar nicht weh, aber er schaffte es nicht, weiterzulaufen. Er fühlte sich furchtbar schwer ...
Jack fiel zu Boden und versuchte zu verstehen, was mit ihm vorging. Er spürte die Hitze der Sonne, sah in den leuchtend blauen Himmel ... Seine Hände gehorchten ihm nicht mehr, wollten nicht ertasten, woher all das Blut kam ... Er krallte sie in den harten Boden ...
Über ihn raste die dritte Angriffswelle hinweg. Sie kämpften jetzt drüben in den türkischen Gräben ... Jack blickte in die Sonne. Sie schien rot zu werden, alles nahm ein unwirkliches Licht an ...
Und dann war da ein Gesicht. Ein besorgtes, rundes, jungenhaftes Gesicht mit schweißfeuchten Locken.
»Mr. Jack ...«
»Nur ›Jack‹ ...«, flüsterte er. Seine Zunge schmeckte Blut. Er meinte, husten zu müssen. Und dann spürte er nichts mehr.
WEITE WEGE
Greymouth, Canterbury Plains, Auckland
1915–1916–1917–1918
1
Timothy und Elaine Lambert zeigten kein Talent zu Gefängniswärtern. Natürlich beharrte Tim zunächst darauf, dass Lilians Alleingang mit Hausarrest bestraft wurde. Schließlich hatte sie seinen ausdrücklichen Befehlen zuwider gehandelt, indem sie Ben zu jenem Spaziergang im Farnwald »verführte«. Nach verbüßter Strafe war Tim allerdings bereit, seiner Tochter zu verzeihen, und Lilian genoss wieder alle Freiheiten, die ihre Eltern ihr gewöhnlich ließen. Niemand kam auf den Gedanken, ihr das Ausreiten zu verbieten oder täglich inquisitorisch zu erfragen, wo sie sich denn herumgetrieben habe. Nun war das auch nicht nötig, denn obwohl Lilian auf keinen Fall vorhatte, den Kontakt zu Ben abzubrechen, blieb ihr doch jedes Treffen verwehrt.
Egal, wie häufig sie ihr Pferd im Bereich der Biller-Mine bewegte oder wie angelegentlich sie auf der Straße vor dem Stadthaus der Billers mit Freundinnen plauderte – Ben bekam sie nicht zu Gesicht. Florence Biller legte ihren gesamten Ehrgeiz darein, ihren Sohn von einer zu frühen und ihr obendrein ungelegenen Liebschaft abzuhalten. Sie erhielt seinen Hausarrest über Monate aufrecht und ließ ihn auch ansonsten kaum aus den Augen. Am Morgen fuhr er mit ihr im Auto zur Mine und erledigte unter ihrer Aufsicht Büroarbeiten, zu Hause war er sowieso ständig unter Beobachtung.
Eines Tages war Bens Geduld am Ende. Er versuchte, einen Brief an Lilian mit der Post der Mine herauszuschleusen. Unglücklicherweise wurde er sofort von seiner Mutter entdeckt.
»So ein Unsinn! Das Mädchen muss obendrein dumm sein, darauf hereinzufallen!«, höhnte Florence, nachdem sie das Gedicht überflogen hatte, das Ben für Lilian verfasst hatte. »›Mit den Regentropfen fließt mein Herz zu dir ...‹ Regentropfen fließen nicht, Ben, sie fallen! Und Herzen fließen sowieso nicht. Jetzt setz dich hierher und bearbeite diese Rechnungen. Mit den Lieferscheinen abgleichen, bitte, und ins Wareneingangsbuch eintragen. Ohne Schnörkel und ohne Reime!« Florence knüllte den Brief samt Umschlag zusammen und warf ihn mit großer Geste aus dem wegen der Sommerhitze weit geöffneten Fenster.
Ben ließ die Tirade mit gesenktem Kopf und tiefrotem Gesicht über sich ergehen. Gewöhnlich
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