Der Ruf der Kiwis
»Jack, der Steinkreis ist nur die Spitze des Eisbergs. Ich kann dir hier noch vier oder fünf Landstücke zeigen, die wir aus Rücksicht auf die Maoris nicht beweiden. Gewöhnlich kein Problem, wie gesagt, aber in diesem Winter ... Und in den meisten Fällen ist der Anspruch unberechtigt.«
»Nach Recht und Gesetz ist er das sowieso«, bemerkte Jack. »Das Land wurde von den Wardens rechtmäßig erworben, sogar Tonga hat das letztlich anerkannt.«
»Der Anspruch ist in jeder Beziehung unberechtigt!«, bekräftigte Gloria. »Es ist ja nicht so, dass jedes Eckchen Land gleich
tapu
wird, auf dem sich mal zwei Maori-Jungen die Nasen blutig gehauen haben. Das Ganze ist eine Erfindung von Tonga. Er spielt ziemlich gemeine Spiele mit Grandma Gwyn.«
»Die Schererkolonnen kommen morgen«, erklärte Gwyneira McKenzie ihrem Sohn und ihrer Urenkelin beim Abendessen. Es war inzwischen Mitte September, und das Wetter hatte sich gebessert. Manchmal meinten Jack und Gloria schon den Frühling zu spüren, wenn sie mit den Hunden ausritten. Das Training führte sie inzwischen fast jeden Tag in irgendeinen Schafpferch. Die Grundlagen der Ausbildung saßen bei allen vier jungen Hunden, und Nimue, die alles noch einmal mit durchgezogen hatte, lief geradezu zur Höchstform auf. Jetzt hieß es, das Gelernte bei der Arbeit mit den Schafen umzusetzen – aber das lernten die Welpen in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. Wie alle guten Border Collies waren sie geborene Sheepdogs. Gloria platzte fast vor Stolz auf ihre kleinen Schützlinge und mochte kaum daran denken, dass sie im Sommer wahrscheinlich verkauft würden. Kiward Station besaß genug erwachsene, voll ausgebildete Tiere.
»Jetzt schon?«, fragte Jack. »Ist das nicht zu früh, Mutter? Wir haben doch sonst nie vor Oktober geschoren, und da auch nicht in den ersten Tagen.«
Gwyneira zuckte die Achseln. »Wir haben kein Heu mehr, wir müssen früher austreiben. Wenn das Wetter so bleibt, können die Mutterschafe Mitte Oktober in die Berge.«
»Aber das ist Wahnsinn, das ...« Gloria ließ ihre Gabel fallen und blickte ihre Urgroßmutter mit funkelnden Augen an. »Das ist viel zu früh! Wir werden die Hälfte der Lämmer verlieren!«
Gwyneira war drauf und dran, eine heftige Antwort zu geben, aber Jack machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Das Wetter kann jederzeit umschlagen«, sagte er ruhig.
»Kann, aber wird nicht!«, behauptete Gwyneira. »Es muss jetzt besser werden. Nach diesem grauenhaften Sommer und dem regnerischen Winter ... Irgendwann muss es aufhören zu regnen.«
»An der Westküste regnet es dreihundert Tage im Jahr!«, bemerkte Gloria ungehalten.
»Es wird zweifellos aufhören«, meinte Jack. Er stocherte in seinem Essen herum. Auch ihm war der Appetit vergangen. Gloria hatte Recht – seine Mutter war drauf und dran, eine krasse Fehlentscheidung zu treffen. »Aber nicht, bevor der Frühling richtig anfängt. Und nicht unbedingt gleich auch in den Alpen, Mutter. Du weißt doch, was da jetzt noch für ein Wetter herrscht!«
»Uns bleibt gar nichts anderes übrig. Das Wetter muss mitspielen. Was ist nun mit den Scherschuppen? Möchte einer von euch die Aufsicht über einen davon übernehmen? Nummer drei ist noch nicht besetzt, es sei denn, ich mache es selbst.«
Gwyneira sah prüfend von einem zur anderen. Sie hätte es nie zugegeben, aber sie hoffte dringend auf Hilfe. In der letzten Zeit, sicher begünstigt durch das feuchtkalte Wetter, schmerzten ihre Gelenke. So fing es an; sie dachte immer öfter an James und die Qualen seiner Arthritis.
»Das kommt doch wohl nicht in Frage!«, meinte Jack.
Seiner Mutter war das Alter jetzt nur zu deutlich anzumerken. In den letzten Monaten schien Gwyneira geschrumpft zu sein. Sie war immer klein und zierlich gewesen, aber jetzt wirkte sie winzig und zerbrechlich. Ihr Haar war gänzlich weiß und schien an Spannkraft zu verlieren. Gwyneira steckte es morgens nachlässig auf. Ihre von Falten gezeichnete Haut verlieh ihr das Aussehen einer der uralten Waldfeen ihrer keltischen Heimat. Zu diesem Bild hätten auch ihre Augen gepasst, die immer noch wach und leuchtend azurblau strahlten. Britische Waldfeen waren kaum unterzukriegen.
»Wenn’s von euch keiner macht ...«, bemerkte Gwyneira kühl und straffte sich.
»Ich tu ’s«, sagte Gloria und funkelte sie warnend an. Sie wusste genau, dass ihre Großmutter eher auf Jacks Meldung gehofft hatte. Aber sie sollte ja nicht wagen, das laut
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