Der Ruf der Kiwis
Reithosen zur Arbeit kam. Dabei kannte zumindest die Belegschaft von Kiward Station die weiten Breeches, in denen das Mädchen zu reiten pflegte. Inzwischen nähte sie sich die Hosen selbst und sah darin auch kein Problem. Von den modischen Hosenröcken unterschieden sie sich schließlich nur darin, dass sie die Reitstiefel darüber trug und nicht darunter. Letzteres hatte sie versucht, es erwies sich jedoch als unpraktisch. Und da an diesem Morgen noch nicht so sehr das Scheren, sondern erst mal das Eintreiben der Schafe auf dem Programm stand, erschien Gloria mit ihrem Pferd und in der üblichen Kluft. Die Männer aus den Schererkolonnen, die gegen Mittag eintrafen, starrten sie verwundert an – und wurden von den Viehhütern gleich in der nächsten Pause über sämtliche Skandale rund um Gloria Martyn informiert.
Zu allem Überfluss war auch noch Frank Wilkenson dem Scherschuppen drei zugeteilt. Gloria nahm an, dass Gwyneira das absichtlich gemacht hatte. Der Mann stand dem Posten des Vorarbeiters am nächsten; wahrscheinlich sollte er sie beaufsichtigen. Das führte natürlich dazu, dass die beiden sich noch misstrauischer beäugten, als sie es sowieso zu tun pflegten.
Wilkenson hatte aber eigentlich nur die Aufgabe, Schafe zu scheren wie alle anderen Männer von Kiward Station, die abkömmlich waren und die Technik beherrschten. Es war durchaus üblich, dass die Farmarbeiter die Schererkolonnen unterstützten, und gute Scherer von den Farmen – wie früher James und viel später auch Jack McKenzie – konkurrierten dabei mit den Profis. Das sorgte für zusätzliche Spannung bei den Wettbewerben. Mitunter musste die Aufsicht in den Schuppen darauf achten, dass sämtliche Männer arbeiteten, statt die Konkurrenten anzufeuern und ihnen zuzujubeln. Auch in Schuppen drei zogen Wilkenson und der schnellste Arbeiter der Schererkolonne rasch gleich, und Gloria kam kaum damit nach, ihre Ergebnisse zu notieren. Das spornte auch die anderen an, und so hatte Gloria das Gefühl, die Arbeit gut im Griff zu haben – bis Frank Wilkenson und seine Männer die Aufzeichnungen anzweifelten.
»Komm, Pocahontas, das kann nicht sein! Dies war Schaf zweihundert, nicht einhundertneunzig. Da hast du dich verzählt.«
Gloria bemühte sich, nicht heftig zu reagieren. »Miss Gloria, bitte, Mr. Wilkenson. Und die Zählung war korrekt. Mr. Schaffer liegt bei zweihundert, Sie sind zehn Tiere im Rückstand. Also sollten Sie sich beeilen und scheren, statt Ärger zu machen.«
»Ich hab’s aber auch gesehen«, meldete sich Bob Tailor, Wilkensons Freund und beliebtester Saufkumpan. »Ich hab mitgezählt.«
»Du kannst doch gar nicht zählen, Bob!«, hänselte ihn einer der anderen Männer.
»Zumindest können Sie kaum zählen und gleichzeitig scheren«, bemerkte Gloria. »Aber vielleicht liegen Sie ja aufgrund dieses aussichtslosen Versuchs erst bei fünfundachtzig Tieren ...«
»Nun werd mal nicht frech, Häuptlingstochter!«
Bob Tailor baute sich vor Gloria auf. Sie tastete nach ihrem Messer ... aber das war nicht das richtige Vorgehen. Gloria versuchte, ruhig zu atmen.
»Mr. Tailor«, erklärte sie ruhig. »So geht es nicht. Verschwinden Sie hier, Sie sind entlassen. Und die anderen arbeiten bitte weiter.«
Sie funkelte den Arbeiter an, der daraufhin tatsächlich den Blick senkte. Gloria atmete auf, als Tailor zur Tür ging.
»Das lasse ich nicht auf mir sitzen!«, bemerkte dieser aber noch, ehe er im Begriff war, den Scherschuppen zu verlassen. Gloria meinte, gesiegt zu haben – bis Frank Wilkenson von seiner Arbeit aufsah und seinem Freund zugrinste. »Ich muss jetzt erst mal diesen Wettbewerb gewinnen, Bobby. Aber nachher klär ich das mit Miss Gwyn, keine Sorge!«
Gloria ermahnte ihn erneut, immer noch scheinbar ruhig. Sie hatte seit ihrer ersten Zeit auf der Farm dazugelernt. Wutausbrüche brachten nichts. Aber den Rest des Tages nagte die Angst an ihr.
Sie erwies sich als nicht unbegründet. Frank Wilkenson bewährte sich als schnellster Scherer in Schuppen drei und lag am Abend mit zweihundertachtundsechzig geschorenen Schafen obendrein an der Spitze der Gesamtwertung.
Gloria sah ihn in Gwyneiras Kontor, als sie, schmutzig und müde, nach der Arbeit nach Hause kam.
»... neigt einfach ein bisschen zu Überreaktionen, und Bob ... na, er kann’s nicht lassen, Mädchen zu necken ...«
Gloria wusste, dass sie hineingehen, die Sache richtigstellen und ihre Entscheidungen hätte verteidigen müssen. Aber sie dachte
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