Der Ruf der Kiwis
Hunden und Nimue haben wir alle in einer Nacht draußen. Morgens ist das Land dann schon angefressen, dann können wir sagen, es wäre sowieso entweiht.«
Jack überlegte. »Das gäbe sehr viel Ärger«, erklärte er.
»Jack, denk an all die Lämmer!«, flehte Gloria. »Die erfrieren doch da oben. Wenn wir Kiward Station erst mal leerfressen lassen, gewinnen wir vier Wochen. Bis dahin ist das Wetter besser.«
Jack hatte keine Lust, sich Gwyneira entgegenzustellen. Bis vor einigen Wochen wäre es ihm fast egal gewesen, was aus den Tieren wurde. Aber fast zweihundert dieser mageren, blökenden Jammergestalten hatte er beim Scheren zwischen seinen Schenkeln gehalten. Und bald würden wieder winzige Lämmer die Weiden bevölkern. Er hatte ihre Bewegungen im Leib der Mutterschafe gespürt, als er die Tiere geschoren hatte. Jack dachte an die ungeheure Befriedigung, die es verschaffte, wenn man Zwillingen ans Licht der Welt half, die sich bei der Geburt ein wenig in der Mutter verkeilt hatten. Selbst bei robusten Rassen waren Komplikationen bei Lämmergeburten nicht selten. Gwyneira ließ die Tiere deshalb grundsätzlich auf der Farm ablammen und trieb erst später aus. Bis zu diesem Jahr ... Jack nickte.
»Gut, Glory. In aller Heimlichkeit. Wir treiben diese Gruppe erst mal zu den leeren Rinderställen beim Maori-Dorf. Da können sie sich aufwärmen. Und wenn es heute Nacht nicht regnet, bringen wir sie raus. Die anderen Pferche sind alle von den Ställen nicht einsehbar, unser Freund Wilkenson kann uns also nicht verpfeifen. Und Maaka kriegt auch nichts mit, obwohl der wahrscheinlich auf unserer Seite wäre. Hochzeit hin oder her – er liebt seine Schafe. Los, ruf die Hunde!«
Es war ein Abenteuer, nachts aus dem Haus zu schleichen und die Pferde aus dem Stall zu holen. Letzteres ging wahrscheinlich nicht, ohne von irgendwelchen Farmarbeitern bemerkt zu werden. Gloria schoss bei dem Gedanken die Röte ins Gesicht. Über einen nächtlichen Ausritt mit Jack würden die Leute wieder reden.
Aber dann genoss sie es fast, unter dem Sternenhimmel neben ihm zu reiten. Es hatte gegen Abend tatsächlich aufgeklart, und so hatten sie ein wenig Mondlicht.
»Da ist das Kreuz des Südens, siehst du?«, fragte Gloria und wies auf eine auffällige Konstellation von Sternen am Himmel. »Miss Bleachum hat’s mir mal gezeigt. Es hilft Seeleuten beim Navigieren ...«
»Und hat es dir geholfen, in Australien?«, fragte Jack leise. »In Gallipoli waren Leute aus dem Outback. Sie sagten, es sei unendlich schön, aber weit und gefährlich ...«
Gloria zuckte die Achseln. »Ich fand’s nicht schön«, sagte sie knapp. »Das hier ist schön.«
Vor ihnen erhob sich der Ring der Steinkrieger. Die Hunde hatten die schläfrigen Schafe sehr schnell munter gemacht und trieben sie nun flott vor sich her. Der Ritt hatte kaum eine Stunde gedauert, und nun verteilten die Mutterschafe sich schmausend um den Steinkreis. Jack sicherte den heiligen Ort mit einer mitgebrachten Rolle Stacheldraht.
»Glaubst du, Grandpa James’ Geist ist wirklich hier?«, fragte Gloria und half ihm, den Draht zwischen den Dolmen zu spannen. Sie war nicht ängstlich, aber die Schatten der Steinkrieger im Mondlicht wirkten doch ein bisschen unheimlich.
Jack nickte ernst. »Aber ja! Hörst du ihn nicht lachen? Vater hätte an dieser Geschichte seine diebische Freude gehabt! Gerade erinnert er sich daran, wie er den großen Farmern die Schafe nachts von den Hochlandweiden wegtrieb, während die Schäfer in den Blockhütten Karten spielten. Egal, was Mutter morgen sagt, James McKenzie wäre stolz auf uns.«
Gloria lächelte. »Hallo, Grandpa James!«, rief sie in den Wind. Jack konnte sich nur mühsam bezähmen, den Arm um sie zu legen.
Das Gras schien zur Antwort zu rascheln.
Bis zum Morgen hatten die zwei mit ihren Hunden um die fünftausend Schafe auf verschiedenen Weidestücken verteilt. Besonders Jack fiel todmüde ins Bett – und schlief endlich einmal tief und traumlos, ohne einen Gedanken an Charlotte oder Gallipoli.
Gloria schlummerte unruhig. Sie erwartete, jeden Moment von einem Donnerwetter aus dem Bett gejagt zu werden, doch es geschah nichts. Dabei musste das Fehlen der Schafe den Viehhütern am Morgen aufgefallen sein. Schließlich mussten die Tiere gefüttert werden.
Tatsächlich meldeten die Arbeiter es jedoch nicht gleich Gwyneira, sondern wandten sich an Maaka. Der klopfte am späten Vormittag an Jacks Zimmertür. Nach der klaren Nacht
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