Der Ruf der Kiwis
wollte sie wissen und brachte Sarah damit beinahe zum Lachen.
»Das ist Europa mit dem Stier«, erklärte die junge Lehrerin.
Glorias Miene war anzusehen, dass nur komplette Dummköpfe ein Rind dem Pferd als Reittier vorziehen würden. Europas Sitz schien ihr auch wenig gefestigt. Und warum malte überhaupt jemand so einen Unsinn?
»Ich bin sicher, ihr werdet die Geschichte im Unterricht hören«, meinte Sarah, die nun wirklich keine Lust hatte, ihren Zöglingen die Verführung phönizischer Prinzessinnen durch griechische Götter zu erklären. Erst recht nicht im Beisein ihres Cousins.
Der klopfte nun auch schon an das Zimmer der Rektorin.
»Herein!« Eine tiefe, befehlsgewohnte Stimme.
Sarah versteifte sich unweigerlich. Gloria versuchte, sich hinter ihr unsichtbar zu machen. Nur Lilian schien unbeeindruckt. Auch der gewaltige Eichenschreibtisch, hinter dem die füllige Rektorin thronte, konnte sie nicht einschüchtern. Fasziniert blickte sie auf die strenge, komplizierte Frisur, zu der Miss Arrowstone ihr offenbar kräftiges braunes Haar arrangiert hatte.
»Die Queen!«, wisperte der Reverend Sarah mit einem halben Lächeln zu. Tatsächlich fühlten sich auch die Mädchen an Bilder der einige Jahre zuvor verstorbenen Königin Victoria erinnert. Miss Arrowstones Gesicht war nahezu faltenlos, aber streng, ihre Augen wasserblau, ihre Lippen schmal. Es war bestimmt kein Vergnügen, wegen irgendeiner Verfehlung von ihr vorgeladen zu werden. Aber jetzt lächelte sie.
»Habe ich richtig gehört? Die Schülerinnen aus Neuseeland? Mit ...« Sie blickte fragend zwischen Sarah und dem Reverend hin und her.
Sarah wollte sich eben vorstellen, als Christopher auch schon erklärte: »Miss Sarah Bleachum, Miss Arrowstone. Meine Cousine. Und meine ... äh ...« Er blinzelte verschämt, woraufhin Miss Arrowstones Lächeln noch strahlender wurde.
Sarah dagegen fiel es schwer, eine freundliche Miene zu wahren. Christopher schien ihre bevorstehende Vermählung für beschlossene Sache zu halten. Schlimmer noch, offensichtlich hatte er sie bereits seinem ganzen Bekanntenkreis als Verlobte angekündigt.
»Ich bin Lehrerin, Miss Arrowstone«, stellte sie richtig. »Gloria Martyn war bislang meine Schülerin, und da ich Verwandte in Europa habe ...«, sie streifte Christopher mit einem kurzen Blick, »habe ich die Gelegenheit genutzt, die Mädchen nach England zu begleiten und Familienbande neu zu knüpfen.«
Miss Arrowstone produzierte so etwas wie ein Kichern.
»Familienbande, aha ...«, meinte sie anzüglich. »Nun, wir freuen uns jedenfalls sehr für den Reverend, und die Pfarre kann eine weibliche Hand gut brauchen.« Wieder dieses Kichern. »Sicher werden Sie ihm doch während Ihres ... Besuchs ... im Sprengel zur Hand gehen?«
Sarah wollte einwenden, dass sie eigentlich mehr an eine neue Anstellung als Lehrerin dachte, doch Miss Arrowstone hatte ihre Aufmerksamkeit bereits auf ein neues Ziel gelenkt. Aus der neugierigen Matrone wurde die gestrenge Rektorin. Sie betrachtete die beiden Mädchen durch eine Brille, deren Gläser fast so dick waren wie die Sarahs. Dabei zog ein Ausdruck der Verwunderung über ihr Gesicht.
Gloria wand sich unter diesem Blick.
Immerhin verwechselte Miss Arrowstone sie nicht mit Lilian. Die Rektorin hatte sich über ihre Schülerinnen informiert. Sie wusste, dass Gloria die Ältere war.
»Du bist nun also Gloria Martyn«, bemerkte sie. »Also, von deiner Mutter hast du gar nichts.«
Gloria nickte. An diese Feststellung war sie schließlich gewöhnt.
»Zumindest nicht auf den ersten Blick«, schränkte Miss Arrowstone ein. »Aber deine Eltern haben angedeutet, dass du über bislang unentdeckte musikalische oder gestalterische Talente verfügst.«
Gloria blickte verwirrt. Vielleicht sollte sie es lieber gleich gestehen.
»Ich ... ich kann nicht Klavier spielen«, bemerkte sie leise.
Miss Arrowstone lachte. »Ja, das hörte ich bereits, Kind. Deine Mutter ist sehr betrübt darüber. Aber du bist schließlich erst fast dreizehn, da ist es noch nicht zu spät, ein Instrument zu lernen. Möchtest du denn Klavier spielen? Oder lieber Geige? Oder Cello?«
Gloria errötete. Sie wusste nicht einmal genau, was ein Cello war. Und spielen wollte sie es ganz sicher nicht.
Zum Glück half ihr jetzt wieder mal Lilian aus der Klemme.
»Ich spiele Klavier!«, erklärte sie selbstbewusst.
Miss Arrowstone musterte sie streng. »Wir erwarten von unseren Schülerinnen, dass sie nur sprechen, wenn sie
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