Der Ruf der Kiwis
nicht lockergelassen. Aus irgendwelchen Gründen musste das Treffen mit den Leuten von der Universität Wellington, die angeblich bahnbrechende Neuheiten in der Bergbautechnik vorzustellen hatten, unbedingt in Christchurch stattfinden. Und da war die Zuglinie einfach die praktischste und zeitsparendste Verbindung. Vergleichbare direkte Straßen durch die Berge gab es nicht. Vor dem Bau der Schienen hatte der Weg zwischen Christchurch und der Westküste mehrere Tage in Anspruch genommen.
Tim verlagerte zum zehnten Mal in den letzten Minuten sein Gewicht und blickte zu seiner Frau hinüber. Elaine hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn zu begleiten. Wenn sie schon in Christchurch seien, so hatte sie argumentiert, könnten sie auch ihre Familie auf Kiward Station besuchen. Noch eine Auto oder Kutschfahrt. Tim mochte gar nicht daran denken.
Trotz allem hätte Elaines Anblick ihn beinahe von seinen Schmerzen abgelenkt. Sie sah an diesem Tag besonders hübsch aus. Bislang war ihm nie aufgefallen, dass ein schlichter Besuch bei ihrer Großmutter sie derart aufleben ließ. Doch seit Antritt dieser Reise blitzten ihre Augen, und ihr Gesicht war, scheinbar vor Vorfreude, leicht gerötet. Zudem hatte sie sich schön gemacht: Ihre roten Locken waren zu einer neuen Frisur zusammengefasst. Ihr grünes Kleid umschmeichelte ihre immer noch schlanke Figur. Und ihr Rock war kürzer als sonst. Tim betrachtete wohlgefällig Elaines schlanke Waden.
Sie bemerkte seinen Blick und lächelte. Wie um ihn zu reizen, zog sie das Kleid noch ein bisschen höher. Nicht ohne sich zu vergewissern, dass Roly in der anderen Ecke des Abteils fest schlief.
Der kurze Flirt wirkte deutlich belebend auf Tim, und Elaine atmete auf. Sie hatte besorgt beobachtet, wie ihr Mann auf der verzweifelten Suche nach einer halbwegs bequemen Sitzposition auf der Bank hin und her rutschte. Dabei machte sie sich weniger Gedanken um seine Hüfte. Die Schmerzen würden nach wenigen Stunden Ruhe nachlassen, und Tim hätte ihnen vorbeugen können, indem er ausnahmsweise zu Opium griff. Doch was das anging, war er eisern: Solange er es aushalten konnte, nahm er keine Morphine. Das Bild seiner Mutter, die schon bei kleinsten Störungen ihrer Befindlichkeit nach dem Opiumfläschchen suchte, stand ihm zu deutlich vor Augen. Tim wollte sich nicht in ein abhängiges, weinerliches Wesen verwandeln. Allerdings ließ er seine gereizte Stimmung gern an seiner Umgebung aus. Und das konnte Elaine gar nicht gebrauchen.
Sie war froh, als der Zug Arthur’s Pass erreichte, wo die Passagiere aussteigen und sich die Beine vertreten konnten. Tim schaffte das nur mit Rolys Hilfe, ein Zeichen dafür, dass es ihm wirklich schlecht ging. Die Möglichkeit, sich zu strecken und aufzurichten, schien ihm dann aber Linderung zu verschaffen. Elaine lächelte, als er den Arm um sie legte und das Bergpanorama bewunderte. Zurzeit war das Wetter klar, aber hinter den steil in den Himmel ragenden Gebirgsmassiven brauten sich dunkle Wolken zusammen. Ein Hintergrund, der die schneebedeckten Gipfel fast unnatürlich leuchten ließ. Die Wolken filterten das Sonnenlicht und ließen die Täler bläulich bis violett wirken. Die Luft schien elektrisch aufgeladen. Die Ruhe vor dem Sturm.
Doch auch privat sah Elaine eher schlechtes Wetter voraus, denn nicht nur die Lamberts und Roly vertraten sich die Beine vor der Ersten Klasse. Eben war Caleb Biller aus einem der Wagen gestiegen und kam nun auf sie zu, um sie höflich zu begrüßen. Für Elaine war seine lange, schlaksige Gestalt auf dem Bahnsteig keine Überraschung. Aber hätte er nicht in seinem Abteil bleiben können? Andererseits war diese Überlegung kindisch. Selbst Tim war nicht mit Caleb verfeindet. Die Männer tauschten dann auch ein paar freundliche Worte über das Wetter – und natürlich stiegen sie anschließend zusammen wieder ein. Tim war das erkennbar nicht recht, aber Caleb sah die Sturmzeichen in seiner Haltung nicht, und es wäre äußerst unhöflich gewesen, ihn einfach wegzuschicken. Caleb gab vage an, dass er sich in Christchurch mit anderen Wissenschaftlern treffen wollte. Umso ausführlicher schilderte er seine letzten Forschungen, bei denen es um vergleichende Studien zwischen der Götterdarstellung bei den Maoris und den berühmten Statuen auf den Osterinseln ging.
»Es ist bezeichnend, dass unsere Maoris die Figuren eher im Inneren der
wharenui
aufstellen, womit sie sich auch von anderen polynesischen Stämmen unterscheiden,
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