Der Ruf der Kiwis
verschlossen. Natürlich nicht, Christopher war hier schließlich eingetreten.
Atemlos in ihrem Korsett, aber auch vor Aufregung, nahm Sarah die Brille ab und tastete sich in den Vorraum. Die Tür zur Sakristei stand offen. Und da ... da bewegte sich ein seltsam kompakter Körper, halb über einen Sessel gelegt ... etwas Grünes und Schwarzes ... Und etwas Rosafarbenes. Nackte Haut?
»Christopher?« Sarah tastete in den Falten ihres gerafften Kleides nach ihrer Brille.
»Sarah, nicht!« Christopher Bleachum versuchte, das Schlimmste zu verhindern, aber Sarah hatte ihre Brille schon aufgesetzt.
Emily wäre es ohnehin nicht gelungen, ihr Kleid so rasch wieder herunterzuziehen ... und Christophers Hosen ...
Der Anblick war entwürdigend. Er war abstoßend.
Und er ließ Sarah Bleachum, die Besessene, Verführte, Liebende, wieder zu der klugen jungen Frau werden, die nicht davor zurückschreckte, ihre Welt in Frage zu stellen.
Fassungslos starrte sie sekundenlang auf die halb nackten Körper im Raum neben dem Gotteshaus. Dann blitzten ihre Augen vor Wut und Enttäuschung auf.
Christopher musste an ihre Lieblingsheldinnen aus der Bibel denken. Es war leicht vorstellbar, was Daphne, Esther und Jael mit ihm und Emily getan hätten ...
Sarah griff ihn jedoch nicht an. Sie sprach nicht einmal. Blass, den Mund fest zusammengepresst, riss sie sich den Schleier vom Haar.
Emily fürchtete fast, sie würde auch das Korsett lösen, denn sie griff bereits nach dem Verschluss des Kleides; dann aber kam sie wohl doch noch zu sich. Ohne den beiden Ertappten noch einen Blick zu schenken, lief sie hinaus.
»Du musst dich anziehen, der Bischof ...« Emily fand als Erste in die Wirklichkeit zurück. Doch es war zu spät.
Christopher glaubte nicht, dass Sarah in ihrem Zustand den Bischof darüber informiert hatte, was geschehen war, aber wenige Minuten vorher hatte er vor der Kirche gestanden. Er musste gesehen haben, wie sie kopflos aus der Sakristei stürmte.
Der Reverend zog instinktiv den Kopf ein und wappnete sich. Der Zorn Gottes würde über ihn kommen ...
»Es tut mir leid, Glory, es tut mir wirklich leid.«
Sarah Bleachum wiegte das schluchzende Mädchen in den Armen. »Aber du musst doch verstehen, dass ich unter diesen Umständen nicht bleiben kann. Wie würden die Leute mich denn ansehen?«
»Das ist mir egal!«, schluchzte Gloria. »Aber wenn Sie jetzt zurück nach Neuseeland fahren ... Hat Grandma Gwyn es wirklich erlaubt? Schickt sie Ihnen wirklich das Geld?«
Sarah Bleachum war am Hochzeitstag kopflos geflohen, aber schon als sie an der verwirrten Hochzeitsgesellschaft vorbeirannte, begannen ihre Gedanken wieder zu fliegen. Sie musste weg von diesem Ort, so schnell wie möglich. Zunächst aus Sawston, dann aus England, sonst würde sie verrückt werden.
Sarah erreichte ihr Zimmer in Mrs. Busters Haus unbehelligt, riss sich das Kleid und vor allem das unsägliche Korsett vom Körper und zog das nächstbeste Kostüm über, das sie fand. Sie raffte ihre Kleider zusammen und machte sich auf den Weg nach Cambridge.
Sieben Meilen, das war zu schaffen. Am Anfang rannte sie fast, dann ging sie, am Ende schleppte sie sich nur noch dahin. Aber wenigstens war ihr glühender Zorn verraucht, und auch die erste Scham wich der Erschöpfung. In Cambridge gab es Hotels. Sarah hoffte nur, dass sie nicht zu viel Geld im Voraus würde zahlen müssen. Schließlich fand sie eine bescheidene, jedoch anheimelnd wirkende Pension und klopfte an. Und zum ersten Mal an diesem schrecklichen Tag hatte sie Glück. Die Betreiberin, eine Witwe namens Margaret Simpson, stellte keine Fragen.
»Sie können mir später erzählen, was geschehen ist ... wenn Sie wollen«, sagte sie sanft und stellte eine Tasse Tee vor die junge Frau. »Zunächst müssen Sie sich ausruhen.«
»Ich brauche ein Postamt«, flüsterte Sarah. Jetzt, da sie zur Ruhe kam, fror sie und zitterte am ganzen Körper. »Ich muss eine Depesche absenden ... nach Neuseeland. Glauben Sie, das geht von hier?«
Mrs. Simpson füllte die Teetasse erneut und legte ihrem sonderbaren Gast eine Wolljacke um die Schultern. »Natürlich. Aber das hat Zeit bis morgen ...«
Sarah hätte niemals gedacht, dass sie nach diesem Tag Schlaf finden würde, aber zu ihrer Überraschung schlief sie tief und fest – und erwachte am nächsten Morgen mit einem Gefühl der Befreiung. Sie empfand natürlich auch Scham und Angst vor der Zukunft. Vor allem aber war eine Art Zwang von ihr abgefallen.
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