Der Ruf der Kiwis
Ja. Wenn Du wirklich verzweifelt bist, Gloria, wenn Du allein bist und keine Hoffnung siehst, dass sich etwas daran ändert, dann schreib mir, und ich komme. Ich weiß nicht, wie ich es anstellen werde, aber ich bin für Dich da.
Dein Dich über alles liebender Halbgroßonkel Jack
William überflog die Zeilen mit gerunzelter Stirn.
»Sie hatten ganz Recht, das abzufangen, Miss Arrowstone«, bemerkte er dann. »Die Beziehung zwischen meiner Tochter und diesem jungen Mann hatte schon immer etwas Ungesundes. Werfen Sie den Brief weg.«
Gloria war allein. Ganz allein.
VERLORENE PARADIESE
Canterbury Plains, Cambridge, Auckland,
Cape Reinga, Amerika, Australien, Greymouth
1914–1915
1
»Auf die Gefahr hin, dass ich mich anhöre wie der alte Gerald Warden, aber irgendwas stimmt da nicht.«
James McKenzie schleppte sich durch den ehemaligen Rosengarten von Kiward Station, schwer auf einen Stock und leicht auf den Arm seiner Frau Gwyneira gestützt. In der letzten Zeit wurde ihm jede Fortbewegung zur Qual, seine Gelenke versteiften, das Rheuma erinnerte an unzählige, unter freiem Himmel verbrachte Nächte. Es mussten schon besondere Anlässe sein, wie eben die Ankunft der Schafherden und ihrer Treiber aus den Bergen, damit James das Haus verließ. Doch obwohl sein Sohn Jack die Leitung der Farm längst de facto in Händen hatte, ließ der alte Vormann es sich doch nicht nehmen, einen Blick auf die wohlgenährten Mutterschafe und Jungtiere zu werfen. Wie eine Ansammlung fetter Wattebäusche standen die Tiere auf den Weiden und in den Pferchen von Kiward Station, zornig blökend, wenn der Viehtrieb verwandte oder befreundete Tiere auseinandergerissen hatte. Gwyneira und James konnten zufrieden sein. Die Schafe waren in bester Verfassung, die Verlustrate verschwindend gering.
Jack, der den Viehtrieb geleitet hatte, scherzte mit den Maori-Treibern und umarmte seine Frau Charlotte.
Charlotte hatte sich während seiner Abwesenheit sicher nicht gelangweilt. Wahrscheinlich hatte sie die Zeit, in der auch die Maori-Dörfer weitgehend von Männern verwaist waren, eher genutzt, um mit den Frauen Geschichten auszutauschen. Schließlich hatte sie längst herausgefunden, dass Männer und Frauen die gleichen Legenden oft ganz unterschiedlich erzählten und ausschmückten. Charlotte konnte diese Nuancen inzwischen sehr genau erkennen. Nach mehr als fünf Jahren auf Kiward Station, beschäftigt mit ständigem Studium der Maori-Überlieferungen, sprach sie die Sprache längst fließend und, wie Jack manchmal scherzhaft bemerkte, fast besser als ihr Mann.
Auch jetzt rief sie den Männern Scherzworte und Grüße ihrer Frauen in ihrer Sprache zu, während sie sich zärtlich an Jack schmiegte. Den Maoris war diese Intimität in aller Öffentlichkeit nicht peinlich – nur die Sitte des Küssens anstelle des Nasenreibens schien ihnen seltsam vorzukommen.
Aber James McKenzies immer noch scharfe braune Augen hatten nicht nur die Verfassung seiner Schafe erkannt und abgeschätzt. Er streifte auch Charlottes schlanke Gestalt mit seinem Blick, und das veranlasste ihn zu der besorgten Bemerkung gegenüber seiner Frau. Die alten McKenzies hatten zwar Essen und Whiskey gespendet, würden aber am anschließenden Fest zum Ende des Viehtriebs nicht teilnehmen. Gelassen schlenderten sie durch den Garten auf den hinteren Eingang des Hauses zu. Auch noch nach so vielen Jahren bevorzugten beide den Kücheneingang in der Nähe der Ställe gegenüber dem hochherrschaftlichen Entree.
»Gut fünf Jahre Ehe, und das Mädchen ist dünn wie ein Grashalm. Irgendetwas ist da nicht in Ordnung.«
Gwyneira nickte sorgenvoll. Das Thema kam immer wieder zwischen den Ehepartnern zur Sprache, aber keiner von ihnen mochte Jack und Charlotte direkt darauf ansprechen. Zu genau hatten sie noch Gwyneiras Martyrium in Erinnerung, als Gerald Warden, ihr damaliger Schwiegervater, täglich ihre schlanke Taille kommentierte und ihr Unfruchtbarkeit vorwarf.
»Am mangelnden Üben liegt es hier allerdings nicht«, meinte sie scherzhaft. »Die zwei können sich ja nach wie vor kaum aus den Fingern lassen. Unwahrscheinlich, dass sie im Schlafzimmer nicht weitermachen ...«
James schmunzelte. »Und im Unterschied zu einer gewissen Miss Gwyn vor einem halben Jahrhundert macht unsere Charlotte auch einen sehr glücklichen Eindruck«, neckte er seine Frau. Gwyneira hatte sich damals in ihrer Not an James gewandt. Ihr Gatte Lucas war offensichtlich unfähig, ein Kind
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