Der Ruf der Pferde
markanten Umrisse von Urquhart Castle. Nur Nessie fehlte, stellte sie fest und musste erneut kichern. Sie war selbst erstaunt über ihre ungewöhnlich alberne Stimmung – die vielen Blümchen schienen wirklich ein gutes Mittel gegen ihre lähmende Melancholie zu sein.
Fernes Wiehern ließ sie erstarren.
Es gab hier doch nicht etwa Pferde? Davon hatten ihre Eltern nichts gesagt und sie nahm an, dass diese wussten, wie wenig Wert sie auf die Gesellschaft von Pferden legte! Das konnte doch wohl nicht wahr sein, sie wollte hier keine Pferde haben! Gerade jetzt, da sie endlich ein wenig Abstand von den schrecklichen Ereignissen bekam.
Patricia ging zurück zum Fenster und sah hinaus.
Keine Pferde, sie konnte nicht einmal Koppelzäune erkennen. Sie hatte sich das Wiehern sicher nur eingebildet!
Doch nein, da war es wieder – hell und fröhlich. Und nun vernahm Patricia auch leises Hufgeklapper, das schnell lauter wurde. Es kam von der Straße her, die vor dem Haus vorbeiführte. Patricia riss die Tür auf und rannte polternd die enge, alte Holztreppe hinunter. Vor der Haustür blieb sie schwer atmend stehen.
Nein, es waren keine Pferde.
Fünf Reiter kamen in langsamem Schritt die Straße auf Ponys herauf. Die stämmigen Tiere mit den wuscheligen Mähnen und langen buschigen Schweifen machten einen fröhlichen Eindruck, obwohl die Kinder, die sie trugen, ganz offensichtlich nichts vom Reiten verstanden. Besonders das vorderste Mädchen auf dem sandfarbenen Wallach hing mehr im Sattel, als dass sie ritt, und klammerte sich ängstlich an der drahtigen Mähne fest.
»Michelle, nun setz dich doch mal gerade hin. Ich verspreche dir, du fällst nicht hinunter!« Die Gruppe wurde angeführt von einem blonden jungen Mann, vielleicht Mitte zwanzig und der Einzige des Trupps, der gekonnt im Sattel saß. Er drehte sich allerdings gerade zu seinen Begleitern um und in seiner Stimme lag eine komische Mischung von Aufmunterung und Verzweiflung. Es war nicht schwer zu erraten, dass sie hier eine Gruppe Reitanfänger mit ihrem Lehrer vor sich hatte.
»Ich trau mich nicht!«, jammerte das hübsche blasse Mädchen mit dem langen Zopf und verkrampfte sich noch mehr. Der junge Mann seufzte und schien einen unauffälligen Blick auf seine Uhr zu werfen. Das Pony hingegen ließ sich von Michelles sicher schmerzhaftem Klammergriff nicht irritieren, es schritt gleichmütig vorwärts und Patricia erkannte auf den ersten Blick, dass es einen sanftmütigen Charakter und einen butterweichen Gang hatte. Es waren wirklich hübsche Tiere, mittelgroß mit kräftigen Beinbehängen, und der Aalstrich auf ihren Rücken deutete auf eine enge Verwandtschaft der Rasse mit den ausgestorbenen Wildpferden hin. Patricia wusste sofort, dass sie Vertreter der hier im Hochland so beliebten Highland Ponies vor sich hatte. Sie kannte diese Rasse aus Berichten und von Bildern, aber in natura gesehen hatte sie bisher noch kein Exemplar.
Die Reitgruppe war nun auf der Höhe der Pension angekommen und der junge Mann bemerkte, dass Patricia in der Tür stand und zu ihnen hinüberstarrte. Im Vorbeireiten nickte er ihr zu und grüßte freundlich.
Patricia gab keine Antwort. Ihr war siedend heiß eingefallen, dass sie momentan wieder genau das tat, was sie eigentlich nie wieder hatte tun wollen: sich für Pferde interessieren.
Doch das erwartete Wutgefühl blieb aus. In ihr war nur Leere. Und tiefe Traurigkeit.
Wie eingefroren stand Patricia da und blickte den fünf Ponys hinterher, die im gleichmäßigen Schritt der Straße folgten, bis sie hinter der Biegung verschwunden waren. Nur das Klappern der Hufe hörte Patricia noch eine Weile.
Sie fuhr herum, als sie hinter sich jemanden bemerkte.
Mrs Dench war zu ihr hinausgetreten.
»Hast du die Pferde gesehen?« Ihr Ton war nervenaufreibend fröhlich, ihr rundes, rotwangiges Gesicht strahlte vor überschwänglicher Freundlichkeit und ließ Patricia an lang vergessene Kindergartentanten denken. Aber sie besann sich auf ihre guten Manieren, verkniff sich eine patzige Antwort und nickte. Die Frau konnte ja nichts dafür.
»Fast jeden Tag kommen hier welche vorbei«, erzählte die Wirtin und bückte sich nach ein paar welken Blättern im Blumenkübel neben der Tür. »Sie gehören zum McNair-Hof. Der ist gleich da drüben im nächsten Tal. Sie haben dort eine ganze Menge Pferde, du solltest unbedingt mal hingehen und sie dir ansehen!« Geschäftig fegte sie Erdkrümel zusammen und merkte nicht, dass Patricia wieder
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