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Der Ruf der Pferde

Der Ruf der Pferde

Titel: Der Ruf der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Beyrichen
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erreichten. Nach Drumnachrochit wurde die Reise immer beschwerlicher, es gab nur noch kleine schmale Straßen, oft ohne Mittelmarkierung, und das eine oder andere Mal zog Mrs Mackintosh erschrocken die Luft ein, wenn ihnen ein größeres Fahrzeug entgegenkam. Zweimal mussten sie anhalten, weil eine Schafherde die Fahrbahn kreuzte, und einmal trat Mr Mackintosh abrupt auf die Bremse, weil ein ausgewachsener Rothirsch mitten auf der Straße stand.
    »Geil!« Ivan hopste aufgeregt auf seinem Sitz auf und ab. Der Hirsch ließ sich nicht stören, er stand in aller Ruhe auf dem Asphalt und blickte das Auto mit müdem Interesse an.
    »Hoffentlich greift er uns nicht an«, sagte die Mutter beunruhigt.
    »Unsinn, warum sollte er?«, erwiderte ihr Mann. »Wir tun ihm doch nichts.« Sicherheitshalber stellte er jedoch den Motor ab, um das Tier nicht unnötig zu reizen.
    Patricia betrachtete den Hirsch. Jetzt, im Hochsommer, trug er kein Geweih, aber die samtüberzogenen Knospen des neuen Kopfschmuckes für die kommende Paarungssaison waren bereits sichtbar. Patricia hatte noch nie zuvor ein frei lebendes Wildtier dieser Größe ohne Zaun vor sich gehabt. Was für ein wunderschönes Tier, dachte sie. Er steht da, als ob er genau wüsste, dass wir Menschen hier eigentlich nichts verloren haben. Hier ist sein Revier, nicht unseres.
    Der Hirsch schien sich nun ausgiebig an den Zweibeinern in ihrem stinkenden Blechkasten ergötzt zu haben. Er schüttelte gelangweilt seinen mächtigen Schädel und setzte sich in Gang. Patricia schaute ihm hinterher, als er leichtfüßig den Straßengraben überquerte und dann im langbeinigen Passgang den Hang hinauftrabte und hinter dem Hügelkamm verschwand. Sie merkte, dass sie die Luft angehalten hatte, und atmete aus.
    Mr Mackintosh ließ den Motor wieder an. Jetzt war es nicht mehr weit.
    Das Gästehaus lag etwas außerhalb eines kleinen Dorfes. Es war ein aus rotem Sandstein errichtetes zweistöckiges Gebäude mit mehreren Erkern und Dachgauben im viktorianischen Stil.
    »Ach, ist das hübsch hier!«, rief Mrs Mackintosh begeistert. »Noch viel schöner als im Prospekt abgebildet!«
    Patricia sagte nichts, während sie half, das Gepäck auszuladen. Aber auch ihr gefiel das Haus mit seinem kopfsteingepflasterten Hof, das von einem sauber gestrichenen, leuchtend roten Zaun umgeben war.
    Einige halbhohe Bäume ragten fast bis an die Fenster des oberen Stockes heran und hinter dem Gebäude konnte Patricia einen Garten und einen Schuppen erkennen, aus dem gerade ein Huhn herausstolzierte.
    Eine wohlbeleibte Frau in bunt geblümter Kittelschürze stand schon in der Tür und begrüßte die neuen Gäste freundlich. Sie sprach ziemlich starken Hochlanddialekt und rollte die R in einer Weise, die den Mackintoshs ungewohnt war. Aber ihre Redseligkeit glich die Verständigungsschwierigkeiten absolut aus. Sie sei Mrs Dench, die Wirtin, erklärte sie, und sie hoffe, dass es ihnen allen hier gefiele. Jetzt würde sie ihnen sogleich ihre Zimmer zeigen, wo alles zu ihrer Bequemlichkeit gerichtet sei. In einer halben Stunde gäbe es dann Dinner, und wenn sie noch etwas bräuchten . . .
    Blablabla, dachte Patricia und seufzte innerlich, während sie den Redeschwall an sich vorbeirauschen ließ. Oh Himmel, die Frau nervte. Hoffentlich brachte sie sie nicht noch jeden Abend zu Bett!
    Patricias Zimmer lag im Obergeschoss und ging nach hinten zum Garten.
    Sie öffnete als Erstes das Fenster und lehnte sich hinaus. Hühnergegacker, irgendwo bellte ein Hund und in den Bäumen zwitscherten Vögel. Durch die Bäume hindurch konnte sie in einiger Entfernung eine glitzernde Wasserfläche ausmachen – ein klei ner See vielleicht, in den Highlands gab es ja Lochs, wo man nur hinschaute. Eigentlich wirklich ganz okay, dachte Patricia. Hier konnte man es bestimmt eine Weile aushalten. Wenn man mal von der Einrichtung absah, fügte sie für sich hinzu, als sie sich umdrehte und das Zimmer näher betrachtete. Blümchentapeten, ein groß geblümter Bettüberwurf, ein klein gemusterter Teppich mit Rankenornament und – wer hätte es gedacht – lange Rüschenvorhänge mit Blumenmuster am Fenster. Patricia musste innerlich grinsen angesichts dieser überwältigenden Blütenpracht. Aber irgendwie hatte es sogar was, fand sie. Es war so kitschig, dass es schon wieder originell wirkte.
    Nur das Bild über dem Bett war tatsächlich schön. Ein Aquarell, offenbar war es sogar handgemalt. Ein Blick auf Loch Ness, Patricia erkannte die

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