Der Ruf der Pferde
Ein Haufen alter Steine, was konnte man denn sonst noch sehen! Eine andere Sache waren halbwegs intakte Burgen, fand Patricia. In solchen lief auch sie gerne herum, stellte sich vor, wie die Leute damals wohl gelebt hatten, und dachte daran, dass Menschen, die inzwischen schon viele Jahrhunderte tot waren, dieselben Wege gegangen und aus denselben Fenstern geblickt hatten wie Patricia in diesem Augenblick.
Doch Urquhart Castle vermochte keine solche Gedanken in Patricia zu wecken. Die berühmte Burg war in einem sehr schlechten Zustand, kaum eine Mauer stand noch und der Rest des einzigen noch vorhandenen Turmes war wegen Einsturzgefahr nicht zu betreten. Ziemlich lustlos schlenderte sie hinter ihren Eltern her, die zusammen mit einem guten Dutzend anderer Touristen tatsächlich jeden Mauerrest einzeln begutachten mussten. Jetzt studierten sie sogar ausgiebig die Tafel, auf der die Geschichte von Urquhart Castle beschrieben stand – als ob man das nicht im Reiseführer hätte nachlesen können!
Patricia trat an die Brüstung der Brücke, die die Burg mit dem Fußweg verband, und stützte die Ellenbogen auf. Der stetige kühle Wind blies ihre Haare durcheinander und Patricia hob ihr Gesicht in die wärmende Sonne. Der Blick war grandios, das musste sie zugeben. Überhaupt war es hier einmalig schön. Der See lag tiefdunkel zwischen den lang gestreckten waldlosen Hügelketten, die in der Ferne bläulich schimmerten. Frische grüne Wiesen wechselten sich mit niedrigem Buschwerk ab und überall stand das Heidekraut in voller Blüte und leuchtete in sattem Rosa. Zusammen dehnte sich der klarblaue Himmel, den hoch aufgetürmte Wolken zogen. Die Luft hier schien zu vibrieren, so rein und sauber war sie, und im Hintergrund sangen Feldlerchen ihr unermüdliches Lied.
Patricia war erst einmal in ihrem Leben in den Highlands gewesen, aber damals war sie erst vier oder fünf Jahre alt und hatte sich definitiv nicht für die Schönheit der Landschaft interessiert. Sie erinnerte sich kaum noch daran – lediglich dass sie damals von unzähligen Mückenstichen übersät war und nachts vor lauter Jucken kaum schlafen konnte.
Die Idee, den Sommerurlaub in den Highlands zu verbringen, war spontan aufgekommen. Ihre Mutter brachte eines Tages ein paar Prospekte vom Reisebüro mit nach Hause und schon eine Woche später war alles gebucht. Patricia war es egal gewesen, sie dachte bei sich, es sei vielleicht wirklich keine schlechte Idee. Dadurch kam sie wenigstens für ein paar Wochen aus Edinburgh heraus. Weg von den immer noch quälenden Erinnerungen.
Patricia war nach wie vor in sich gekehrt und kapselte sich ab. Auch die Schule litt darunter, ihre Noten waren in den letzten Monaten deutlich abgesackt. Patricia merkte, dass ihre Lehrer Rücksicht auf sie und ihren Kummer nahmen, aber es reizte sie eher, als dass es ihr guttat. Sie wollte nicht behandelt werden wie eine arme Kranke, die man schonen musste. Aber einfach so weiterzumachen wie vorher, das schaffte sie auch nicht.
Im Grunde wusste Patricia überhaupt nicht mehr, wie sie sich verhalten wollte. Sie fühlte nur ihre eigene Unzufriedenheit und ärgerte sich am meisten über sich selbst.
Der Urlaub konnte deshalb tatsächlich eine gute Ablenkung sein – immerhin verband sie hier nichts mit irgendwelchen Erinnerungen an Gavin. Sie hatte sich einen ganzen Stapel Bücher mitgebracht und beabsichtigte, die freien Tage hauptsächlich mit Lesen und Faulenzen zu verbringen. Ihr Vater als begeisterter Angler hätte es sicher gern, wenn sie ihn gelegentlich begleitete, aber die Aussicht, stundenlang still zu sitzen, um dann irgendeinen armen Fisch töten zu müssen, schreckte Patricia ab. Ivan freute sich hingegen schon darauf, das Fliegenfischen zu lernen. Das sollte er ruhig tun, dachte Patricia. Dann hatte sie wenigstens ihre Ruhe vor ihm.
»Patricia, komm, wir müssen weiter.« Ihre Eltern waren hinter sie getreten, während Ivan noch ein paar Steine in den See warf und dazu laute Explosionsgeräusche imitierte. »Wir wollen nicht zu spät in der Pension ankommen.«
Patricia nickte und seufzte. Wenigstens hatte sie dort Ruhe vor ihrem Bruder, da sie ihr eigenes Zimmer hatte. Dass sie nicht mit Ivan in einem Raum schlafen musste, hatten ihr ihre Eltern hoch und heilig versprechen müssen. Alles andere war ihr egal.
Die Pension, in der sie die nächsten Wochen wohnen würden, lag nicht einmal so besonders weit weg von Edinburgh. Dennoch war es fast Abend, bevor sie sie
Weitere Kostenlose Bücher