Der Ruf der Pferde
nicht los«, bat Michelle.
»Nein, mach ich nicht«, beruhigte Patricia sie. »Er wird sowieso gleich wieder ruhig sein, sobald er die anderen nicht mehr sieht.« Sie sprach leise auf den Wallach ein, der tatsächlich merklich friedlicher wurde, als das letzte Pony über den Hügelkamm verschwunden war.
»Wie heißt er denn eigentlich?«, fragte Patricia, die hoffte, Michelle durch Geplauder ablenken zu können.
»Linus«, antwortete sie und Patricia, die sie aus den Augenwinkeln beobachtete, erkannte zu ihrer Erleichterung, dass sie sich wieder gefangen zu haben schien.
»Ein schöner Name«, sagte Patricia und strich dem Pony über die Nüstern. »Aber er ist ja auch ein Prachtkerl, nicht wahr?«
»Ja, das ist er«, stimmte Michelle zu und ein Leuchten überzog ihr Gesicht.
Sie mochte Pferde, das merkte Patricia. Bloß vor dem Reiten hatte sie Angst.
Michelle richtete sich nun wieder im Sattel auf, die Anwesenheit des anderen Mädchens gab ihr ein wenig Sicherheit zurück.
»Wie ist es, kannst du jetzt allein weiter?«, fragte Patricia.
Michelles Augen weiteten sich wieder. »Allein?«
»Du brauchst nicht zu galoppieren. Du reitest einfach ganz gemütlich im Schritt zurück zum Hof. Den Weg kennst du ja.« Patricia sprach in aufmunterndem Ton.
Doch Michelles Miene verdüsterte sich.
»Kannst du nicht mitkommen und Linus führen?« Ihre Stimme hörte sich ganz kindlich an.
Patricia seufzte. Da hatte sie sich etwas aufgehalst! Jetzt sollte sie auch noch Kindermädchen spielen!
Nein, sie wollte nicht. Wollte nicht auf den Hof und wollte sich nicht um ein Pferd kümmern.
Verdammt, diese Michelle war ja wohl in der Lage, im langsamen Schritt die restlichen paar hundert Meter Weg auf ihrem Pony sitzen zu bleiben! Linus würde garantiert keine Schwierigkeiten mehr machen. Bestimmt trottete er schnurstracks zu der Stelle, wo abgesattelt wurde, ohne sich groß um Michelles Hilfen – oder besser, Nichthilfen – zu kümmern. Diese Mietponys kannten schließlich den üblichen Ablauf und waren unsichere Reiter gewohnt!
Patricia öffnete den Mund, um abzulehnen.
Dann sah sie Michelles Gesicht. Das Mädchen blickte so jämmerlich drein, die Augen voller Tränen, dass ihr Mitleid überwog.
Sie gab sich einen Ruck.
»Gut, von mir aus.« Patricia fragte sich im selben Augenblick, wie um alles in der Welt sie sich damit einverstanden erklären konnte. Sie musste bescheuert sein!
Aber sie wollte nicht kneifen, versprochen war versprochen.
Sie griff wieder nach Linus’ Trense, überprüfte, ob Michelle einigermaßen im Sattel saß, und wandte sich dann um.
Der sandfarbene Wallach folgte ihr willig. Hauptsache, er kam endlich zurück nach Hause.
»Es ist nett von dir, dass du mir hilfst«, brachte Michelle nach einer Weile hervor. Immer noch hörte sie sich an wie ein kleines Kind, aber zumindest weinte sie nicht mehr. Bei ihrer schüchternen Bemerkung wallte in Patricia das schlechte Gewissen wegen ihrer unfreundlichen Gedanken auf.
Um es wieder gutzumachen, lächelte sie Michelle an.
»Ist schon okay«, sagte sie. Und sie merkte, dass das die Wahrheit war. Die schlechte Laune von eben fiel mit einem Mal von ihr ab und ein warmes Gefühl von Mitleid durchflutete sie.
»Wie kommt es eigentlich, dass du reitest, wenn du dich doch so davor fürchtest?« Die Frage entschlüpfte Patricia ganz spontan.
Michelle schwieg eine ganze Weile. Dann holte sie tief Luft.
»Meine Eltern möchten es gerne«, flüsterte sie.
»Deine Eltern?« Patricia wunderte sich, obwohl sie sich so etwas schon gedacht hatte. »Also, meine Eltern haben immer gemeckert, wenn ich zu viel geritten bin . . .«, rutschte es ihr heraus, dann hielt sie abrupt inne. Darüber wollte sie nicht sprechen. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Und deine Eltern wollen tatsächlich, dass du reitest? Wissen sie denn, dass du Angst hast?«
»Ja.« Michelles Stimme bekam einen bitteren Klang.
Patricia dachte, sie hätte sich verhört. »Wie bitte? Sie wissen es und schicken dich trotzdem?« Sie konnte es nicht fassen.
Michelle schluckte. »Sie sagen, ich muss lernen, meine Angst zu überwinden. Und das geht nur, wenn ich häufig trainiere.«
»Hm«, machte Patricia zweifelnd. »Hast du denn auch zu Hause Reitunterricht?«
»Ja.« Michelle klang wieder sehr mutlos. »Zu Hause sind die Pferde bloß noch größer als hier und ich bin schon ein paar Mal abgeworfen worden. Und der Reitlehrer brüllt mich ständig zusammen . . .« Sie verstummte.
»Hm.«
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