Der Ruf der Pferde
schmutzige Tuch, das sie in der Hand hielt, mit finsterer Miene. »Und wie krieg ich Dallis jetzt trocken? Ich kann sie nicht so stehen lassen, sie wird sonst krank!« In ihrer Stimme schwang Nervosität mit und Ethan erkannte, dass sie noch lange nicht wieder so ruhig war, wie sie in den letzten zwanzig Minuten gewirkt hatte.
Er begann, in seinen verschiedenen Hosen-und Jackentaschen zu kramen.
»Müssen wir uns halt damit behelfen«, meinte er gleich darauf und reichte Patricia ein großes, mehrfach zusammengefaltetes Baumwolltaschentuch.
Sie griff nur zögernd zu und betrachtete es mit argwöhnischer Miene.
»Keine Bange, es ist sauber«, sagte Ethan mit einem Grinsen. »Keine Ahnung, warum ich das mit mir rumschleppe, ich benutze eigentlich nur Papiertaschentücher.«
»Na ja, wenn du es sowieso nicht brauchst . . .« Patricia schien unschlüssig. »Ich weiß aber nicht, ob das jemals wieder richtig sauber wird.«
»Wenn nicht, ist es auch egal.« Ethan schaute Dallis an. »So viel sollte mir deine Dallis doch wohl wert sein!«
»Danke«, sagte Patricia leise.
Dann machte sie sich wieder ans Werk.
Noch nie war es Patricia so schwergefallen, sich von Dallis zu verabschieden, wie diesmal. Sie stand in der Box und streichelte sie, als wenn sie befürchten musste, das Pony nie wiederzusehen. Ihr Gesicht drückte Trostlosigkeit aus.
Ethan ahnte, was ihr durch den Kopf ging.
»Es wird ihr schon nichts passieren«, sagte er sanft. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie das wirklich durchziehen.« »Und wenn doch?« Patricia wandte ihm das Gesicht zu. »Du hast doch gehört, was Emilys Vater gesagt hat. Der hat irgendwas in petto, von dem wir nichts wissen, da bin ich sicher.«
Ethan hob die Schultern.
»Ich würde mir da nicht so viele Gedanken machen. Vergiss nicht, er war stinkwütend und hat sich einfach Sorgen um seine Tochter gemacht. Bestimmt dachte er, es geht ihr wirklich so schlecht, wie sie allen weismachen wollte. Aber spätestens im Krankenhaus werden sie ihr die Tour vermasselt haben, schätze ich. Außerdem, wenn Mr MacLean eine Nacht drüber geschlafen hat, wird er sicher einsehen, dass er überreagiert hat.«
Patricia schüttelte den Kopf.
»Ich wünschte, ich könnte daran glauben«, sagte sie leise. »Ich hab aber ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache. Es wird schiefgehen, ich weiß es!«
»Patricia, hey...« Ethan nahm ihr sanft das schmutzige Taschentuch aus der Hand, steckte es in seine Hosentasche und umschloss dann ihre kalten Finger mit seinen beiden Händen. »Bitte mach dir doch nicht solche Sorgen! Es wird nicht schiefgehen, glaub mir!«
Patricia sah ihn an. »Ich würde dir so gern glauben«, flüsterte sie. »Aber ich schaffe es nicht.«
Sanft, aber bestimmt entzog sie ihm ihre Hände und wandte sich ab.
Ethan seufzte unterdrückt, während er zusah, wie Patricia Dallis ein letztes Mal liebkoste, dann aus der Box trat und die Tür sorgfältig verriegelte. Ihre Verzweiflung ging ihm ans Herz und er wünschte, er könne für Dallis’ Sicherheit tatsächlich garantieren. In Wahrheit hegte er selbst die schlimmsten Befürchtungen.
Er dachte dabei weniger an den wütenden MacLean und seine Drohung.
Silas’ resigniertes Gesicht machte ihm weitaus mehr Angst.
Als sie aus dem Stall traten, war der Hof leer.
Ethan blickte auf seine Armbanduhr. Es war bereits früher Abend. Zu Hause tobte sein Vater wegen seiner langen Abwesenheit wahrscheinlich schon herum. Egal, dann sollte er eben toben.
Er schaute zu Patricia hinunter, die stumm neben ihm ging.
Wie gerne würde ich sie jetzt in den Arm nehmen, dachte Ethan. Aber nach dem zu urteilen, wie sie sich ihm gerade im Stall entzogen hatte, wollte sie das nicht. Das war verständlich, im Moment hatte sie wirklich andere Sorgen.
Doch er seufzte heimlich.
23.
Noch während Mrs Dench am folgenden Morgen unter lautem Geschirrklappern den Tisch deckte, schlüpfte Patricia leise am Frühstücksraum vorbei und öffnete die Haustür. Ganz unbemerkt war sie dennoch nicht geblieben. Denn Mrs Mackintosh trat gerade im Morgenrock aus dem Badezimmer, als sie ihr Zimmer verließ. Auf ihre erstaunte Frage hin, wo sie denn so früh hinwolle, noch dazu ohne Frühstück, hatte Patricia allerdings nur eine äußerst vage Erklärung geliefert. Sie war froh, als ihre Mutter die Sache auf sich beruhen ließ und ihr lediglich einen schönen Tag wünschte. Den wirklichen Grund würde sie wahrscheinlich sowieso nicht verstehen, dachte
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