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Der Ruf der Pferde

Der Ruf der Pferde

Titel: Der Ruf der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Beyrichen
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Patricia.
    Sie verstand es ja selbst nicht.
    Einen schönen Tag solle sie haben! Patricia hoffte nur inständig, dass es kein schlimmer Tag wurde. Sie lag bereits seit dem Morgengrauen wach, nachdem sie die ganze Nacht schon kaum geschlafen hatte. Unruhig wälzte sie sich im Bett herum, und wenn sie doch einmal für eine kleine Weile einnickte, verfolgten sie schwere Träume, in denen Dallis und Ethan die Hauptrollen spielten.
    Dallis und Ethan.
    Patricia fragte sich, wie man gleichzeitig so glücklich und so verzweifelt sein konnte.
    Eine Woge des Glücks überrollte sie, sobald sie an Ethan dachte. Dass er so völlig unerwartet in ihr Leben getreten war und in ihr Gefühle weckte, die sie nie für möglich gehalten hätte, kam Patricia einfach unglaublich vor. Beim Gedanken, ihn heute vielleicht wiederzusehen, verspürte sie tiefe Freude.
    Doch wenn sie sich daran erinnerte, was mit Dallis passiert war, erfasste Patricia die Verzweiflung. Und sie wuchs noch, wenn sie sich vorstellte, was Dallis womöglich noch alles passieren würde.
    Diese Angst hatte sie zu einer Zeit aus dem Bett getrieben, zu der sie normalerweise niemals freiwillig und schon gar nicht während der Ferien aufstand. Patricia war eher eine Langschläferin, was während der Schulzeit immer wieder zu Stress mit ihren Eltern führte.
    Doch nun war alles anders.
    Als Patricia auf ihrem Weg an Dallis’ Koppel vorbeikam, wurde ihr bewusst, wie sehr sie gehofft hatte, die Stute dort wieder vorzufinden, weil die Probleme sich durch irgendein Wunder über Nacht in Luft aufgelöst hatten. Das Gefühl der Enttäuschung darüber, dass sich natürlich nichts geändert hatte, wurde jedoch von ihrer inneren Qual noch übertroffen.
    Durch ihre unbedachte und überhebliche Klugscheißerei hatte sie Emily in Wut versetzt und war mehr oder minder zum Auslöser der ganzen Geschichte geworden. Patricia hatte in Emily den Wunsch nach Rache geweckt und ihr auch noch das ideale Mittel dafür geliefert. Sie merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Ihr Gefühl, dass es tatsächlich zum Schlimmsten kommen würde, nahm immer mehr zu.
    Nachdem Patricia heute extrem früh unterwegs war, traf sie auf dem McNair-Hof noch keine Menschenseele an. Von Weitem bemerkte sie Silas, der gerade dabei war, an den Rhododendronbüschen neben dem eingezäunten Sandplatz überhängende Zweige zu kürzen. Er schaute nicht in Patricias Richtung und bemerkte ihre Ankunft daher nicht. Sie wusste inzwischen, dass Silas ein wenig schwerhörig war und ihre Schritte vermutlich sowieso nicht hören würde. Dennoch bemühte sie sich, leise aufzutreten. Sie wollte nicht in ein Gespräch verwickelt werden, wollte ihre Befürchtungen gar nicht bestätigt wissen. Sie wollte zu Dallis.
    Als Patricia die Stalltür öffnete, überfiel sie mit einem Mal Angst.
    Was, wenn Dallis schon gar nicht mehr da war? Vielleicht hatten sie noch am Abend über ihr Schicksal entschieden und das Urteil vollstreckt, bevor irgendjemand Widerspruch einlegen konnte?
    Patricia blieb im Stalleingang stehen. Drinnen war es düster, sie konnte nichts Genaues sehen und schon gar keine Einzelheiten in der hintersten Box erkennen.
    Aber sie hörte auch nichts.
    Was würde sie vorfinden?
    Patricia wagte nicht, das Licht einzuschalten. Starr vor Furcht, blieb sie mit halb zum Schalter erhobener Hand stehen.
    Aus der hintersten Box kam kein Laut. Kein Schnauben, kein Rascheln der Strohschüttung, kein beruhigendes Kaugeräusch.
    Nur Totenstille. Eiseskälte kroch in ihr hoch. Nein, bitte nicht! Bitte nicht!
    Beim ersten Versuch versagte ihre Stimme, doch Patricia schaffte es mit großer Anstrengung beim zweiten Mal:
    »Dallis?«
    Ihre Stimme klang unwirklich hoch und wie aus weiter Ferne. In ihren Ohren brauste es, während sie ängstlich horchte.
    »Dallis?«, wisperte sie noch einmal, obwohl sie sich schon innerlich bereit machte, die Box tatsächlich leer zu finden.
    Dann hörte sie es.
    Ein Rascheln, als ob sich ein schwerer Körper aus dem Stroh erhob.
    Und ein kurzes, leises Wiehern.
    Dallis war da und sie antwortete!
    Erleichterung überkam Patricia, und während sie zu Dallis’ Box eilte, merkte sie kaum, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen.
    »Oh Dallis«, flüsterte sie, als sich der Kopf der Stute über die Boxentür schob und ihr sanfte dunkle Augen entgegenblickten.
    Dallis prustete leise und schaute aufmerksam zu, als Patricia den Riegel zurückschob. Sie wich auch nicht aus, als Patricia zu ihr hereintrat, sondern

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